Liebe 2.0
Weiher ankomme, kann ich kaum mehr atmen und fühle mich doch unendlich
frei. Keuchend lasse ich mich neben meinen großen kleinen Bruder plumpsen.
Auch Tristan
ringt sichtlich nach Luft, fängt sich aber bald wieder. „Ich glaube, du bist
einfach nur unsicher.“
„Wie meinen?“
Meine Lunge rasselt leise.
„Dieser Typ. Er
verunsichert dich. Schließlich ist er vollkommenes Neuland für dich. Hast du
mit ihm geschlafen?“
Unbehaglich rutsche
ich auf der Bank hin und her. Immerhin ist das mein Bruder, mit dem ich hier
rede.
Tristan schaut
mich abwartend an. „Hast du?“
Ich blicke rüber
zu Clara, die in sicherer Entfernung am Weiher steht und die Enten füttert.
Schließlich gebe ich mir einen Ruck. Was ist schon groß dabei? Als Kinder haben
Tristan und ich uns auch erzählt, wo wir unsere Schätze im Garten vergraben
haben. Da muss man jetzt nicht unnötig geheimnisvoll werden. „Eigentlich haben
wir ausschließlich miteinander geschlafen.“
„Wie jetzt? Eine
reine Fick-Beziehung?!?“
Ich zucke
zusammen. Ob wegen Tristans plötzlicher Lautstärke oder seiner Wortwahl, weiß
ich nicht. Wahrscheinlich stört mich beides. „Schhhht! Nenn das nicht so!!!“,
zische ich und sehe ihn missbilligend von der Seite an. Doch dann muss ich auf
einmal dreckig grinsen. „Ehrlich gesagt: Ja, mehr oder weniger war es das.“
„War es gut?“
Also, das führt
jetzt dann doch zu weit! Oder? Ein weiterer Kontrollblick zu Clara, aber die
scheint weiter bestens abgelenkt. „Es war… fantastisch. – Aber darum geht es
nicht!“ Ich seufze. „Ich weiß selber nicht, um was es geht!“
Wir sitzen eine
Weile schweigend da und starren auf den Weiher. An der anderen Uferseite steht
seit ich denken kann ein Holzkreuz. Irgendwann vor vielen, vielen Jahren ist
ein kleiner Junge dort ins Wasser gefallen und ertrunken. Dabei ist der Weiher
gerade einmal knietief. Das Schicksal ist manchmal einfach grausam.
Schließlich ist
es Tristan, der wieder das Wort ergreift. „Also könnte man sagen, dass du über
Jonas körperlich hinweg bist, aber seelisch noch nicht?“
Ich blicke meinen Bruder mit großen Augen an. Er hat Recht, er ist
wirklich sehr verständig. Allerdings habe ich keine Lust mehr, mich weiter mit
dem Thema auseinanderzusetzen. „ Kann sein – kann nicht sein …“, sage ich
lapidar und stehe auf, um zu Clara und den Enten zu gehen. Und frage mich
insgeheim, wann ich verlernt habe, ein Gespräch mit einem Mann auf ganz normale
Art und Weise zu beenden.
Als ich am
nächsten Abend wieder in meinen eigenen vier Wänden ankomme, lasse ich mich mit
einem großen Seufzer aufs Bett fallen, als hätte ich soeben eine Expedition an
den Nordpol hinter mich gebracht. Oder eben mindestens an den linken
Niederrhein. Eindrücke und Gesprächsfetzen der letzten zweiundsiebzig Stunden
schwirren durch meinen Kopf und beschallen mich in Dolby Surround, ohne dass
ich ihnen irgendwie entkommen könnte.
„Lass es
uns tun!“ – „Eine reine Fick-Beziehung?!?“ – „Ich sehe nicht noch einmal
tatenlos zu, wie du dich fast zu Tode hungerst!“ – „Alles für die Katz!“ – „Wir
müssen den Stift schon selbst in die Hand nehmen, um unsere Geschichte zu einem
guten Ende zu schreiben...“
Benommen setze ich mich auf und
frage mich, wie ich das Chaos in meinem Kopf und in meinem Leben bloß wieder in
den Griff kriegen soll. Es ist alles so verworren. So konfus. Wenn doch nur…
Plötzlich weiß
ich, was zu tun ist. Ich greife zum Hörer, wähle die Nummer, die sich gegen
meinen Willen längst in mein Hirn gebrannt hat, lausche. Freizeichen. Dann eine
Stimme.
„Hallo“, sage
ich, und schlucke. „Ich bin’s.“
III
Fünfundzwanzig
Als ich zwei Abende später das
Restaurant betrete, komme ich mir vor wie in einer fremden Welt. Nicht, dass es
unendlich nobel oder sonst was wäre. Es ist nur kein Ort, an dem ich mich mit
jemandem meines Alters je verabredet hätte.
Gerade als mir
eine Bedienung zu Hilfe eilen möchte, habe ich ihn auch schon erspäht und winke
dankend ab. Da sitzt er an einem intimen Zweiertisch, und seine grauen Augen
blicken mich auf genau dieselbe aufmerksam-tiefgründige Art an, die mich am
Abend seiner Lesung schon so nervös gemacht hat. Seine kreativ zerzausten Haare
wirken weitaus widerspenstiger als Max’ weich verwuschelter Jungenkopf, und
zusammen mit dem leicht spöttischen Lächeln um den zerknitterten Mund vollenden
sie den Eindruck einer gelungenen Mischung aus
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