Liebe 2.0
schon ist“,
geht meine Mutter da dankenswerterweise zum Tischfrieden über. „Es tut mir
leid, dass ich die Sache so plötzlich aufgebracht habe. – Aber du musst
verstehen, Schatz, dass wir noch eine Menge Fragen haben.“ Sie sucht meinen
Blick. „Du bist nicht die Einzige, die sich verloren fühlt nach der Geschichte im
Frühjahr. Du bist nicht die Einzige, die Schmerzen hat, die traurig ist. Ich
meine, zwischen Jonas und dir, das war alles so sonnenklar! Wir mochten den
Jungen von Anfang an… Und so blöd sich das anhört, aber es schien uns immer
selbstverständlich, dass ihr zusammen alt werdet. Und dann sagt ihr auf einmal,
dass ihr nicht mehr miteinander leben könnt. Wir sind aus allen Wolken
gefallen! Es war so, als hätten sich Romeo und Julia getrennt! Oder Siegfried
und Roy. Steffi Graf und André Agassi… Es war, als könnte man plötzlich an die
Liebe selbst nicht mehr glauben!“ Meine Mutter wirkt echt verzweifelt, und auch
ich merke, wie es wieder in mir hochsteigt. Aber ich will nicht mehr weinen und
blinzle die Tränen energisch weg.
„Ich weiß, Mama. Ich weiß.“
Wir schweigen uns eine Weile an,
und nicht einmal Clara, sonst immer und überall vorlaut, wagt einen Mucks. Doch
während mein Beitrag zur Versöhnung vorerst allein darin besteht, mir voller
Verachtung eine halbe Kartoffel in den Mund zu schieben und sie allen
Würgereflexen zum Trotz auch herunterzuschlucken, ergreift Tristan schließlich
das Wort. Binnen Sekunden schafft er es, von Pflichtverteidiger auf Animateur
umzuschalten, und lockert sein Publikum mit Anekdoten vom Oktoberfest auf. Als
mittleres Kind hat er früh gelernt, sich Aufmerksamkeit zu erkämpfen, und
während er mir damit in der Pubertät furchtbar auf den Keks ging, bin ich ihm
jetzt unendlich dankbar. Die Stromschnellen sind überwunden, keiner hat
Schiffbruch erlitten, und so plätschert das Gespräch nach einiger Zeit wieder
munter wie ein ungetrübtes Wässerchen vor sich hin. Es dauert nicht lange, und
Tristan und Mama langen sogar wieder bei Kanada an. Zweiter Versuch, alles auf
Anfang.
„Ich fand
Kanada ja immer großartig! – nicht wahr, Michael?“
Mein Vater nickt
brav und kaut weiter seinen Fleischsalat.
„Diese
Landschaft! Einfach zum Träumen… Vielleicht schaffen wir es ja doch noch mal
dorthin, jetzt wo du da bist. Das wäre doch was! Nicht wahr, Michael?“
Mein Vater nickt
wieder. Er ist ein Mann: Eins nach dem Anderen. Erst wird gegessen, dann
geredet.
„Ich will auch
mit nach Kanada!!!“, kräht Clara dazwischen.
„Ja natürlich“,
sagt Mama. „Du kommst auch mit. Und Julia nehmen wir auch mit. Wer weiß,
vielleicht findet sie dort die nötige Inspiration.“
„Welche
Inspiration?“, frage ich, noch etwas misstrauisch, aber auch neugierig.
„Och, ich weiß
nicht. Was du in Zukunft beruflich machen willst. Oder so.“
„Soll ich vielleicht
als Park Ranger Elche hüten?“
Hm, klingt gar
nicht mal so schlecht…
„Oder du
betreibst dort deinen eigenen Piratensender. Machst so etwas wie Domian ,
das kennen die da drüben bestimmt nicht“, schlägt Tristan vor.
„Ist das nicht
die Sendung, die immer nachts läuft und in der nur Verrückte anrufen?“, fragt
meine Mutter schockiert. Sie wirkt ein bisschen so, als wolle sie
vorsichtshalber schon jetzt bei der kanadischen Telefongesellschaft anrufen und
eine Fangschaltung legen lassen.
„Stimmt genau“,
nickt Tristan. „Da kann Julia sich dann mit den Einheimischen über
landestypische Perversionen unterhalten. Etwa was es mit ihrem Eishockeyfetisch
auf sich hat. Oder du kannst eine Umfrage starten, ob die Holzfäller im Bett
lieber Flanellhemden statt Tennissocken tragen. Oder du gibst ihnen Tipps, was
man mit Ahornsirup außerhalb der Küche alles anfangen kann. Oder…“
„Tristan!“,
schimpft meine Mutter und hält Clara demonstrativ die Ohren zu.
Auch ich
schüttele rügend den Kopf – weniger wegen der nicht-jugendfreien Anspielungen
als vielmehr aufgrund der platten Klischees, die Tristan mal so eben aus dem
Ärmel schüttelt. Man könnte meinen, er arbeite selbst beim Radio.
„Wie gut, dass
du überhaupt nicht vorurteilsbelastet bist! Du wirst dir bestimmt eine Menge
Freunde machen, sobald du drüben bist“, prophezeie ich.
Tristan lächelt
gelassen. „Wieso? Andersherum wird ein Schuh draus. Du könntest die Kanadier ja
auch in die dunklen Vorlieben der Deutschen einweihen. Die Lederhose, zum
Beispiel. Hot or not? Und wie sieht es unter
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