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Liebe am Don

Liebe am Don

Titel: Liebe am Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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diesen beißenden Geruch und die Schärfe, die seine Mundhöhle gerbte. »Immer gibt es Menschen, die umgebracht werden müssen. Versäumt man es, bringen sie die anderen um.«
    »Und wo ist die Grenze?«
    »Es gibt keine, Söhnchen. Er gibt nur kleine Gefährliche und große Gefährliche. Tumow war ein kleiner, ein ganz kleiner … und trotzdem wäre es für ihn schwer gewesen, alle Toten zu zählen, die er auf dem Gewissen hat. Und dann die großen Gefährlichen, die Millionen töten lassen. Man darf nicht darüber nachdenken, Sascha. Wie glücklich sind die Nächte, wo ich neben den Särgen schlafe. Da ist Ruhe. Da gibt es keinen Haß mehr. Da ist jeder zufrieden mit dem Stückchen Platz, das er bis zur Auferstehung erhält. Warum, frage ich mich immer, warum sind die Menschen erst vernünftig, wenn sie tot sind? Warum sagen sie sich nicht: In dreißig, fünfzig oder sechzig Jahren ist doch alles vorbei, da liege ich in einer engen Kiste und habe viel, viel Zeit. Und wenn ich dort liege, kalt und steif, hat sich dann alles gelohnt? Die Aufregungen, der Ärger, die Sucht nach Reichtum, die Kriege um der Macht willen, die Betrügereien und Gaunereien, der Verrat, die Lügen … Sascha, es hat keinen Sinn, so zu fragen. Wir Menschen verstehen das nie.«
    Er sog an seiner Pfeife, blies den Qualm von sich wie eine Lokomotive und hustete jetzt endlich. Es dauerte vier Minuten, bis er sich ausgespuckt hatte, aber dann rauchte er weiter.
    »Im Jahre 1921 war ich dreißig Jahre alt. In Serkowskoi lebte ich, das ist eine kleine Stadt bei Krasnodar. Ich war aus dem Krieg gesund zurückgekommen, weil ich im richtigen Augenblick mein Gepäck wegwarf und mich auf die Socken machte nach Hause. Ich liebte den Zaren nicht, und ich liebte die Roten nicht … ich liebte Marija, meine Frau, und Alexeij, meinen Jungen. Ein Stück Feld hatte ich, drei Kühe, drei Schweine, siebzehn Hühner, neun Gänse, vierundzwanzig Obstbäume. Nicht schlecht lebte ich, Söhnchen, du kannst es mir glauben. Und da kamen sie eines Tages zu mir, Rote, die nun die Gewalt übernommen hatten. Sie kamen einfach auf meinen Hof, schossen ein Schwein tot, vergewaltigten Marija, mein Weibchen, und schlugen meinem Alexeij den Kopf an der Hauswand zu Brei. Ich verkroch mich … was sollte ich tun? Dann heulte ich monatelang wie ein räudiger Hund dem man Pfeffer in die Geschwüre streut. Ich lief herum mit irren Augen und glaubte, nie mehr ein vernünftiger Mensch werden zu können. Ich gab alles auf, zog nach Rostow, von dort nach Stalingrad und wurde Totengräber. Ich heiratete wieder, zeugte einen neuen Sohn und verfiel in neue Verzweiflung. Bei der Geburt des Kindes starb Lavinia, mein zweites Weib. Ich verfluchte Gott und richtete mich ganz auf ein Leben mit den Toten ein. Sogar in die Partei trat ich ein … aber immer, wo es eine Wahl gab, wählte ich dagegen. Man zerbrach sich die Köpfe, wer wohl der Konterrevolutionär sein könnte, vier Parteisekretäre sah ich verschwinden, weil sie nicht herausbekamen, wer's ist. Oh, ich hasse die Roten! Seit fünfundvierzig Jahren lebe ich jetzt unter den Toten, und jedes Jahr, wenn der Tag kommt, an dem sie Marija und Alexeij getötet haben, es ist der 19. Juni, Söhnchen – brenne ich Kerzen an und weine den ganzen Tag. Die anderen sagen dann: Aha, der Borja ist wieder besoffen. Einmal im Jahr erwischt es ihn, das muß mit dem Mond zusammenhängen. Nie haben sie gemerkt, daß es immer der 19. Juni ist. Ja, so ist das Sascha … und deshalb spüre ich auch keine Reue, daß ich Tumow getötet habe … ich weiß nicht, ob du das verstehst …«
    Bodmar verstand es nicht. Er dachte anders. Aber er schwieg, denn es war verlorene Mühe, Borja von den Idealen einer neuen, heilen Welt überzeugen zu wollen. Vielleicht gab es diese Welt nie, aber man sollte nie aufhören, an sie zu glauben und für sie zu leben.
    Als der Morgen graute, fuhr Bodmar den Wagen Tumows in die Stadt, weit weg vom Friedhof Nr. II, an das andere Ende. In der Nähe der riesigen Fabrik ›Roter Oktober‹ stellte er das Auto an den Straßenrand und kehrte mit der Straßenbahn in die Innenstadt zurück. Dort warteten Borja und Njuscha auf ihn. Sie standen auf dem ›Platz des Sieges‹ und lasen die Morgenzeitung.
    »Ein deutscher Journalist hat eine Fremdenführerin von ›Intourist‹ getötet«, sagte Borja und tippte auf die Zeitung. »Nun ist er untergetaucht als Spion. Sie haben das schon einmal gebracht. Jetzt rufen sie alle auf, die Augen

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