Liebe am Don
ihn noch in eines der wenigen Flugzeuge, die vom vereisten Flugplatz aufstiegen, durch eine schreiende Menge von Verwundeten rollten, die nicht mehr mitkamen, sich an die Tragflächen klammerten, um sich schlugen, um Erbarmen schrien und dann weggefegt wurden in die Schneehaufen, wo sie liegenblieben und verreckten. Auch der unbekannte Soldat, der den Brief des Leutnants Bodmar in seinem Stiefel mitnahm, starb … außerhalb des Kessels, in einem Hauptverbandsplatz, und wurde in russischer Erde verscharrt … aber den Brief schickte der Stabsarzt weiter, und so kam er nach Deutschland, dieser Aufschrei eines Mannes, der seinen Tod schildert.
»Mein Sohn,
ich bin verwundet worden. Nicht schwer, nur ein Fleischschuß, der linke Oberschenkel, und wenn es ein normaler Krieg wäre, liefe ich in vier Wochen wieder herum. Aber wir sind in Stalingrad. Wir liegen in einem Keller, in dem siebenhundert Verwundete schreien und wimmern, verfaulen und wahnsinnig werden. Draußen tobt der Schneesturm, zweiunddreißig Grad Frost, es gibt nichts zu essen, und um heißes Wasser zu trinken, schmelzen wir den Schnee. Jeden Tag verhungern Hunderte Kameraden, andere sterben, weil es keine Verbandsmittel mehr gibt, keine Medikamente, nicht einmal eine Spritze gegen die Schmerzen. Wenn sie zu grauenhaft schreien, schlagen wir ihnen über den Kopf, damit etwas Ruhe ist … Ruhe, um darüber nachzudenken, daß wir alle hier in diesem Keller heute oder morgen oder übermorgen nicht mehr sind. – In den beiden Bunkern neben unserem Lazarettkeller haben sie heute eine köstliche Suppe gekocht … sie haben Pferdehufe ausgebrüht, das Holz von Eisenbahnschwellen geraspelt und gekocht, was einen wundervollen Brei ergibt, und zwei Mann gelang es, eine Ratte zu schießen, eine Delikatesse, mein Junge … nun schwimmt sie, in kleine Stückchen zerschnitten, in der Suppe und rettet uns für einen Tag das Leben.
Unsere Sanitäter kamen von Pitomnik zurück. Die Straße zum Flugplatz ist ein einziges Grab. Rechts und links liegen die erfrorenen Verwundeten, kilometerlang, Kameraden, die versuchten, sich zu Fuß zum Flugplatz durchzuschlagen und die der Eiswind zuwehte. Es sollen Tausende sein, die da an der Straße liegen … Eisklötze aus Menschenleibern, ein Straßenpflaster aus Toten. Ich bleibe hier in meinem Keller, mein Junge. Ich bin nur leicht verletzt und kümmere mich um die anderen Kameraden, damit ihnen das Sterben nicht zu schwerfällt. Wie lange ich das noch kann? Ich weiß es nicht. Ob sich jemand um mich kümmern wird …?
Mein Sohn, Gott hat nicht Himmel und Hölle geschaffen … er schuf nur den Himmel. Die Hölle ist Menschenwerk und heißt Stalingrad …«
Bodmar senkte den Kopf. Er blickte das Band der Straße entlang und stellte sich vor, wie im heulenden Schneesturm die Kolonnen der Verwundeten zum Flugplatz wankten, getrieben von der Hoffnung, herauszukommen aus diesem Kessel, das Leben zu retten … und dann wehte der Sturm sie um, sie fielen auf die Knie und krochen weiter … auf allen vieren, Tieren gleich, immer die Straße entlang … Meter um Meter, keuchend, schreiend, wimmernd, betend, fluchend … krochen über die Toten, über die eisigen Menschenklötze, über die Hügel der zugewehten Tausenden … und sie schrien sich zu: Du nicht! Du kommst durch! Du überlebst! Du erreichst den Flugplatz! Dich heben sie in ein Flugzeug, nehmen dich mit in die Heimat … Du bist stärker als sie … du hast die Hölle hinter dir … Pitomnik! Paradies! Beide fangen sie mit P an! Durchhalten! Durchhalten! Du schaffst es …
Und dann fielen sie mit dem Gesicht in den Schnee, und der Wind wehte sie zu, und sie wurden Eisklötze wie die anderen.
Pitomnik.
Die Todesstraße.
»Hier war es«, sagte Borja und zeigte auf ein Stück der Steppe. »Nein, dort … jawohl, dort … man sieht noch die Stelle. Eingesunken ist sie … ich weiß es jetzt genau.« Er schwang sich auf das Rad, fuhr zu einem Platz, der aufgeschüttet schien und wo das Gras blühte und die Bienen summten. Starke, kräftige Disteln schwankten im Wind, ein Geruch wie Honig stieg aus der blumenbunten Steppe.
Bodmar und Njuscha waren Borja gefolgt und hatten sich an die Räder gelehnt. Langsam legte Njuscha den Arm um Bodmars Schulter. Es war eine rührende Geste, wie ein mütterlicher Schutz: Ich bin bei dir, Sascha. Du bist nicht allein in diesem Land … mit deinen Erinnerungen … in der Einsamkeit der Vergangenheit …
»Hier war es«, sagte Borja wieder
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