Liebe bringt die höchsten Zinsen
Leben hatte sie einen Schutzwall um ihre Gefühle errichtet. Ihre Empfindungen warnten sie, sich emotional zu sehr zu öffnen: Wenn ich es tat, bestrafte mich das Schicksal. Das begann in der Schule mit Giuseppe. Das war so mit Michael. Genau genommen, fing es schon mit meinem geliebten Pony an: Wenn ich etwas liebte, verlor ich es. Jetzt auch meinen Vater.
Sie war verletzbar geworden und hoffte: Wenn ich nicht mehr so viele Gefühle zulasse wie früher, bin ich auch immun gegen Enttäuschungen.
Doch die Schutzmauer hatte Risse bekommen. Silvio war längst eingedrungen.
***
Stefanie buchte einen Flug nach Hamburg; gleich am nächsten Morgen wollte sie starten.
Sie hatte unruhig geschlafen. Um fünf Uhr stand sie auf, packte ihren Koffer und fuhr zum Münchner Flughafen. Sie stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab und bestieg aufgeregt die Air-Berlin-Maschine nach Hamburg. Es war ein ruhiger Flug, keine Wolken am Himmel und es herrschte kein Wind.
Stefanie nahm sich nach der Landung einen Leihwagen. Sie stellte das Navigationsgerät auf Grömitz ein. In anderthalb Stunden würde sie bei ihrer Mutter sein.
Die ganze Reise kam ihr unwirklich vor. Als erwachsene Frau würde sie erstmals ihre leibliche Mutter kennenlernen. Wie würde diese reagieren? Würde sie sich freuen? Hätte sie Ähnlichkeit mit ihrer Tochter?
Und wie würde sie selbst mit der Situation umgehen? Fragen über Fragen. Stefanie war zu aufgeregt, um klare Antworten zu finden.
Die Fahrt führte sie an Lübeck vorbei. Normalerweise wäre sie in die Innenstadt gefahren und hätte einen Stadtbummel durch die historische Altstadt unternommen. Aber dieses Mal war sie zu ungeduldig; sie wollte so schnell nach Grömitz kommen wie nur möglich.
Als sie die Autobahn verließ, winkte ein Polizeibeamter mit der roten Kelle. Stefanie musste anhalten.
„Was hab' ich getan?"
„Sie waren 30 Stundenkilometer zu schnell."
„Wirklich 30 Stundenkilometer? Können Sie mich nicht weiterfahren lassen? Ich bin so sehr in Eile."
„Das sagen sie alle; das ist aber keine Entschuldigung."
„Ich weiß. Sie haben Recht. Ich bin nur so aufgeregt, weil ich heute zum ersten Mal meine Mutter ..." – sie stockte, das würde ihr sowieso kein Polizist abnehmen.
„...weil ich zu meinem Verlobten will. Wir haben uns ein halbes Jahr lang nicht gesehen."
„Wenn das so lange Zeit hatte, dann kommt es auf eine weitere Stunde jetzt auch nicht mehr an."
„Bitte..."
Flehentlich blickte Sie den Beamten an.
Er atmete tief durch und schaute zu seinem Kollegen. Als der nur mit den Schultern zuckte, gab er die Fahrbahn frei. „Nun fahren Sie schon..."
„Danke!"
Eine halbe Stunde später stand sie vor einem schmucken kleinen Einfamilienhaus. Hier also sollte ihre Mutter wohnen? Gespannt drückte Stefanie die Klingel. Eine junge Frau öffnete. „Sabine Schumann suchen Sie? Die wohnt schon lange nicht mehr hier."
„Haben Sie Ihre Adresse?"
„Damals zog sie an die See, an den ‚Lindendeich', oben an der Ostsee. Ob sie dort noch wohnt, kann ich Ihnen nicht sagen."
„An den ‚Lindendeich', sagten Sie?" Stefanie war enttäuscht; sie musste weiter auf das Kennenlernen ihrer Mutter warten.
„Der Ort ist gut ausgeschildert; sie können ihn nicht verfehlen."
Die Fahrt führte Sie vorbei an golden blühenden Rapsfeldern und tiefgrünen Weiden. Eine halbe Stunde war sie schon unterwegs, als das Navigationsgerät sie zum Abbiegen aufforderte: Sie fuhr durch eine Landschaft mit stolzen Birken am Straßenrand und wenig später mit mächtigen Buchenalleen, die ein dichtes Schattendach über die Straße spannten.
10. Kathi
Stefanie hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur, zu stark war ihre Anspannung. Sie bemerkte auch nicht die Hinweisschilder am Straßenrand, die sich hinter wild wucherndem Buschwerk versteckten: „FKK-Gelände Lindendeich – 500 m."
Dann eine Schranke, dahinter eine lange Reihe von Wohnwagen und Zelten sowie ein windgegerbtes Holzhäuschen mit der Aufschrift „Willkommen am Lindendeich – der Naturoase an der Ostsee."
Über der Eingangstür prangte ein Schild mit dem verwaschenen Hinweis „Rezeption". Und, wie angebaut, stand dort ein Wohnwagen, der seine beste Zeit offensichtlich schon vor einer Generation und ungezählten Ostsee-Stürmen erlebt hatte: Die Farbe
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