Liebe deinen Naechsten - und nicht nur Ihn
Jiffy Bennett. Sie saßen in einer der gemütlichen Ledersitzecken des Amaranth – ein In-Café, in dem sich Society-Girls gern mit einem Chococcino oder Wodka Gimlet von den Strapazen eines Barneys-Shoppingtrips erholten. An genau so einem Ort hatte Avery sich immer gesehen, wenn sie sich früher ihr glamouröses New Yorker Leben vorstellte. »Stehen irgendwelche Partys an?« Sie zog hoffnungsvoll die Brauen hoch und nippte an ihrem Cappuccino.
In Wahrheit hätte sie auf Thanksgiving problemlos verzichten können; für sie war es nichts weiter als eine viertägige Unterbrechung ihres Lebens, das bereits alles hatte, wofür sie dankbar sein konnte.
Jedenfalls so gut wie alles.
Als sie im September von Nantucket nach Manhattan gezogen war und an der ultra-elitären Constance-Billard-Schule für Mädchen ihr elftes Schuljahr begonnen hatte, wäre sie fast als eines dieser bedauernswerten Mädchen geendet, die die Mittagspause einsam in der Bibliothek verbrachten, weil sie nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Alles hatte damit angefangen, dass sie und Jack eine spontane Abneigung gegeneinander entwickelt hatten, nachdem sie sich einen Tag vor Schulbeginn bei Barneys wegen einer limitierten Collegetasche von Givenchy in die Haare bekamen. Aus Abneigung war schnell offene Feindschaft geworden, was zur Folge hatte, dass Avery von fast allen Mitschülerinnen geschnitten wurde. Dann ergatterte sie ein heiß begehrtes Praktikum beim Kultmagazin Metropolitan und sollte einem überehrgeizigen Klatschreporter pikante Details aus Jacks Privatleben verraten. Aber sie bewies sich und ihren Upper-East-Side-Standesgenossinnen, dass sie für so etwas nicht zu haben war, und konnte sie damit schließlich von sich überzeugen.
Jetzt waren sie und Jack Freundinnen, und während der letzten vier Wochen hatte Avery endlich das New Yorker Leben gelebt, von dem sie immer geträumt hatte – einschließlich Cocktailpartys, Vernissagen und Cafénachmittagen wie dem, den sie gerade im Amaranth verbrachte.
»Hör mir bloß mit Thanksgiving auf«, stöhnte Jiffy. »Ich muss mit meinen Eltern zu Beatrice und Deptford nach Greenwich, das heißt, wenn dieser Tattergreis bis dahin nicht schon ins Gras gebissen hat.« Sie verzog das Gesicht und schob sich ein Stück Avocado in den Mund. Jiffy war ein zierliches, knubbelnasiges Mädchen mit langem, ihr ständig in die braunen Augen fallendem Pony und zweieinhalb sich hartnäckigen haltenden Kilos zu viel. Ihre Schwester Beatrice war zweiunddreißig und seit ihrem sechzehnten Lebensjahr New Yorker Stamm-It-Girl mit eigener Kolumne im Page-Six -Magazin, in der sie sich derzeit ausgiebigst über die Details ihrer bevorstehenden Hochzeit mit ihrem fünfundsiebzigjährigen Verlobten Deptford ausließ.
Als ob sich dafür irgendjemand interessieren würde …
»Und auf mich wartet die Geschwister-Hölle.« Jack stieß die Gabel in ihr Millefeuille, das daraufhin unter einer Wolke Kokosnussraspeln auf dem zarten weißen Porzellanteller in sich zusammenfiel.
»So schlimm kann es doch nicht werden, oder? Sie haben immerhin ein Kindermädchen«, sagte Avery und musterte ihre Freundin aufmerksam. Jack sah immer umwerfend aus, aber in letzter Zeit hatte sie dunkle Ringe unter den Augen, gegen die selbst die La-Mer-Augencreme nichts ausrichten konnte.
Jacks Leben hatte etwas von einem H&M-Kleid: Von Weitem wirkte es todschick und auserlesen. Jack schaffte es nicht nur, Zickigkeit und Eitelkeit wie erstrebenswerte Charaktereigenschaften erscheinen zu lassen, sondern war außerdem ein aufgehender Stern am Balletthimmel und mit J.P. Cashman zusammen, dem Sohn eines der reichsten Immobilienmogule der Welt und ein wirklich netter Typ. Aber von Nahem franste ihr Leben an den Nähten aus wie der unsauber verarbeitete Saum eines Zwanzig-Dollar-Kleids. Ihre französische Mutter, eine ehemals gefeierte Balletttänzerin, verkraftete es nicht, dass ihr einstiger Ruhm verblasste, und drehte im Moment eine billige Reality-Show in Paris. Deshalb lebte Jack jetzt bei ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und ihren beiden kleinen Halbschwestern im West Village – und musste regelmäßig als unbezahlter Babysitter herhalten.
»Hey, meine Schöne!«
Avery schaute auf, obwohl sie ganz genau wusste, dass es J.P. war, der Jack abholen wollte. Er war der Einzige, den sie kannte, der Schöne sagen konnte, ohne total schwülstig – oder total schwul – zu klingen.
Eine nicht zu verachtende Eigenschaft bei seinem
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