Liebe deinen nächsten
bleibe jetzt immer hier.«
Sie sah ihn grübelnd an. »Du sagst mir das, um mich zu beruhigen, Josef…«
»Nein, Marie. Die Amnestie ist gestern herausgekommen.« Er wandte sich nach der Schwester um, die im Hintergrund des Zimmers herumhantierte. »Nicht wahr, Schwester, seit gestern besteht keine Gefahr mehr für mich, erwischt zu werden?«
»Nein« erwiderte die Schwester undeutlich.
»Bitte, kommen Sie doch näher, meine Frau möchte es von Ihnen genau hören.«
Die Schwester blieb gebückt stehen. »Ich hab’s ja schon gesagt.«
»Bitte, Schwester!« flüsterte Marie.
Es blieb still. »Bitte, Schwester«, flüsterte die Kranke noch einmal.
Die Schwester schob sich unwillig heran. Die Kranke sah sie angestrengt an. »Nicht wahr, ich darf seit gestern immer hierbleiben?« fragte Steiner.
»Ja«, stieß die Schwester hervor.
»Es besteht keine Gefahr für mich mehr, erwischt zu werden?«
»Nein.«
»Danke, Schwester.«
Steiner sah, wie sich die Augen der Sterbenden verschleierten. Sie hatte keine Kraf mehr, zu weinen. »Jetzt ist alles gut, Josef«, flüsterte sie. »Und jetzt, gerade wo du mich brauchen kannst, muß ich weg …«
»Du gehst nicht weg, Marie …«
»Ich möchte aufstehen und mit dir gehen können.«
»Wir werden zusammen fortgehen.«
Sie lag eine Zeitlang und sah ihn an. Ihr Gesicht war grau, das Skelett arbeitete sich durch, und das Haar war über Nacht fahl und glanzlos geworden, als sei es erblindet. Steiner sah das alles und sah es doch nicht; er sah nur, daß der Atem noch ging; und solange sie lebte, war sie für ihn Marie, seine Frau, umgeben vom Schimmer der Jugend und der Gemeinsamkeit.
Der Abend kroch ins Zimmer, und von draußen, von der Tür her, hörte man ab und zu das herausfordernde Räuspern Steinbrenners. Maries Atem wurde flach, dann kam er stoßweise, mit Pausen. Endlich wurde er leise und hörte auf, wie ein schwacher Wind, der einschläf. Steiner hielt ihre Hände, bis sie kalt wurden. Er starb mit. Als er aufstand, um hinauszugehen, war er ein gefühlloser Fremder, eine leere Hülle, die die Bewegung eines Menschen hatte. Er streife die Schwester mit einem gleichgültigen Blick. Draußen wurde er von Steinbrenner und dem zweiten in Empfang genommen. »Über drei Stunden haben wir auf dich gewartet«, knurrte Steinbrenner. »Darüber werden wir uns öfer noch mal unterhalten, da kannst du sicher sein.«
»Ich bin sicher, Steinbrenner, dieser Dinge bin ich bei dir sicher.«
Steinbrenner leckte sich die Lippen. »Du weißt ja wohl, daß die Anrede für mich ›Herr Wachtmeister‹ ist, glaube ich, was? Sag ruhig weiter ›Steinbrenner‹ und ›Du‹ zu mir … aber für jedesmal wirst du wochenlang blutige Tränen weinen, mein Liebling. Ich hab’ ja jetzt Zeit mit dir.«
Sie gingen die breite Treppe hinunter, Steiner zwischen den beiden Wächtern. Es war ein milder Abend, und die bis zum Boden reichenden Fenster der oval geschwungenen Außenwand waren weit geöffnet. Es roch nach Benzin und einer Ahnung von Frühling.
»Ich habe ja so unendlich viel Zeit mit dir«, erklärte Steinbrenner langsam und vergnügt. »Dein ganzes Leben, mein Süßer. Und unsere Namen passen so schön … Steiner und Steinbrenner. Mal sehen, was wir daraus noch machen können.«
Steiner nickte nachdenklich. Das schräg geschnittene offene Fenster wurde größer, kam heran, ganz nahe, er gab Steinbrenner einen Stoß gegen das Fenster hin, sprang gegen ihn, über ihn und stürzte mit ihm zusammen ins Leere.
»SIE KÖNNEN DAS Geld ruhig nehmen«, sagte Marill zerstört und traurig. Er hat es mir ausdrücklich für Sie beide hiergelassen. Ich sollte es Ihnen geben, wenn er nicht zurückkommt.«
Kern schüttelte den Kopf. Er war gerade angekommen und saß schmutzig und abgerissen mit Marill in der Katakombe. Von Dijon aus war er als Beifahrer und Gehilfe eines Lastwagenzuges gefahren.
»Er kommt wieder«, sagte er. »Steiner kommt wieder.«
»Er kommt nicht wieder!« erwiderte Marill hefig. »Herrgott, machen Sie es einem doch nicht noch schwerer mit Ihrem dauernden: er kommt wieder! Er kommt nicht wieder! Hier, lesen Sie das!«
Er zog ein zerknittertes Telegramm aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Kern nahm es und glättete es. Es war aus Berlin und an die Wirtin des Verdun gerichtet. »Herzliche Wünsche zum Geburtstag, Otto«, las er.
Er sah Marill
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