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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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sanfe, hallende Stimme. Ruf nur, dachte Moritz Rosenthal, ich melde mich nicht.
      »Vater Moritz«, rief die Stimme wieder, »komm hinter dem Busch der Mühsal hervor.«
      Moritz stand auf. Erwischt, dachte er. Bestimmt kann der Riese schneller laufen als ich; es nützt nichts, ich muß hingehen.
      »Vater Moritz!« rief die Stimme wieder.
      »Kennen tut er mich auch, so ein Pech!« murmelte Moritz. »Ich muß also hier auch schon mal ausgewiesen worden sein. Das gibt dann nach den neuesten Gesetzen mindestens drei Monate Gefängnis. Hoffentlich ist wenigstens das Essen gut. Und sie geben mir nicht die Familienzeitschrif von 902 zum Lesen, sondern was Moderneres. Irgendwas von Hemingway möchte ich gerne mal lesen.«
      Das Tor wurde immer heller und strahlender, je näher er kam. Was sie jetzt für Lichteffekte an den Grenzen haben, grübelte Moritz, man kann gar nicht mehr erkennen, wo man ist. Vielleicht haben sie neuerdings alles erleuchtet, um uns besser zu erwischen. Eine Verschwendung!
      »Vater Moritz«, sagte der Türhüter, »weshalb versteckst du dich denn?«
      »Auch ’ne Frage, dachte Moritz, wo er mich doch kennt und weiß, was mit mir los ist.
    »Geh hinein«, sagte der Türwächter.
      »Hören Se«, erwiderte Moritz, »bis jetzt bin ich meiner Ansicht nach noch nicht strafar. Ich habe Ihre Grenzen noch nicht passiert. Oder gilt das hinter mir auch schon mit?«
      »Es gilt schon mit«, sagte der Hüter.
      Dann bin ich verloren, dachte Rosenthal. Es scheint ’ne Insel zu sein, vielleicht ist es Kuba, da wollen ja neuerdings so viele hin.
      »Fürchte dich nicht«, sagte der Wächter, »es geschieht dir nichts. Geh ruhig hinein.«
      »Hören Se«, erwiderte Moritz Rosenthal, »ich will Ihnen gleich die Wahrheit sagen: Ich habe keinen Paß.«
      »Du hast keinen Paß?«
      Sechs Monate, dachte Moritz, als er die Stimme grollen hörte, und schüttelte ergeben den Kopf.
      Der Türhüter hob den Stab. »Dann brauchst du nicht erst zwanzig Millionen Lichtjahre im himmlischen Stehparterre zu bleiben. Du bekommst sofort einen gepolsterten Sessel mit Armlehnen und Flügelstützen.«
      »Alles ganz schön«, erwiderte Vater Moritz, »aber es geht nicht. Ich habe nämlich auch keine Einreise- und keine Aufenthaltserlaubnis. Von Arbeitserlaubnis wollen wir gar nicht erst reden.«
      »Keine Aufenthaltserlaubnis? Kein Visum? Keine Arbeitserlaubnis?« Der Wächter hob die Hand. »Dann bekommst du sogar eine Loge im ersten Rang, Mitte, mit vollem Blick auf die himmlischen Heerscharen.«
      »Das wäre nicht schlecht«, sagte Moritz, »besonders, wo ich so gern ins Teater gehe. Aber jetzt kommt das, was alles kaputt macht, und eigentlich wundere ich mich, daß Sie nicht weiter draußen schon ein Schild haben, daß wir nicht ’reindürfen. Also ich bin ein Jude. Ausgebürgert aus Deutschland. Illegal seit Jahren.«
      Der Türhüter hob beide Arme. »Jude? Ausgebürgert? Illegal seit Jahren? Dann bekommst du zwei Engel zu deiner persönlichen Bedienung und einen Posaunenbläser dazu.« Er rief in das Tor. »Der Engel der Heimatlosen!« Und eine große Gestalt in blauen Gewändern mit einem Gesicht wie alle Mütter der Welt trat hervor neben Vater Moritz. »Der Engel derer, die viel gelitten haben!« rief der Wächter aufs neue, und eine weißgekleidete Gestalt mit einem Krug Tränen auf der Schulter trat auf die andere Seite von Vater Moritz.
      »Eine Sekunde«, bat der und fragte den Wächter: »Sie sind sicher, mein Herr, daß da drin nicht …?«
      »Keine Sorge. Unsere Konzentrationslager sind weiter unten.«
      Die beiden Engel nahmen seine Arme, und dann schritt Vater Moritz, der alte Wanderer, der Veteran der Emigranten, getrost durch das Tor, auf ein ungeheures Licht zu, über das plötzlich rauschend schneller und schneller farbige Schatten fielen …
      »Moritz«, sagte Edith Rosenfeld in der Tür. »Hier ist das Baby. Der kleine Franzose. Willst du ihn sehen?«
      Es blieb still. Sie trat vorsichtig näher. Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein atmete nicht mehr.

    MARIE ERWACHTE NOCH einmal. Sie hatte den ganzen Vormittag in einer dämmernden Agonie gelegen. Jetzt erkannte sie Steiner ganz klar.
      »Du bist noch hier?« flüsterte sie erschrocken.
      »Ich kann hierbleiben, so lange ich will, Marie.«
      »Was heißt das?«
      »Die Amnestie ist herausgekommen. Ich falle darunter. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich

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