Liebe die bleibt
weich, beinahe feminin. Mir fallen seine langen Wimpern auf, seine vollen Lippen, seine gepflegten Hände, seine geschmeidigen Bewegungen. Seine Stimme klingt warmherzig, seine dunklen Augen vertrauenswürdig. Er ist ein sehr attraktiver Mann, denke ich… er gefällt mir… Vielleicht…? Ich beiße mir bei dem Gedanken unweigerlich auf meine Unterlippe.
„Sie sind der erste Mann, der seit dem Verschwinden von Augustin meine Wohnung betreten hat “, sage ich sanftmütig, wobei ich an meinem Kaffee nippe und abschätzend über den Tassenrand luge.
Tibor lächelt geschmeichelt, ohne mich dabei anzusehen.
„Danke, für das Vertrauen“, sagt er stattdessen.
„Wollen wir uns nicht duzen?“, schlage ich vor. „ Schließlich habe ich Ihnen den deftigsten Teil meines Lebens anvertraut, mit all seinen sündigen Details.“
„D as wollte ich eigentlich schon im Taxi vorschlagen, aber ich wollte Ihnen… dir… nicht zu nahe treten.“
„Moment… ich hol uns etwas zum Anstoßen!“
Ich fülle zwei Gläser mit Kognak auf.
„Aber bitte nicht all zu viel… ich vertrage keinen Alkohol“, ruft er mir nach.
„Auf unser Kennenlernen!“, st oßen wir an. Er gibt mir einen Kuss auf die Wange, obwohl ich meine Lippen gespitzt habe.
„Wenn du nicht mehr in der Lage sein solltest , zu fahren, dann kannst du ja bei mir schlafen“, biete ich an, „auf der Couch“, füge ich noch anstandshalber hinzu. „Ich freue mich sehr, dass ich dich, ich meine… dass wir uns begegnet sind, und dass du meine Einladung nicht ausgeschlagen hast. Ich wollte jetzt nicht allein sein, nicht mit meinen aufgewirbelten Emotionen. Verstehst du? Es war nicht ganz einfach, dir meine Geschichte zu erzählen, es hat mich eine gewisse Überwindung gekostet, all das Geschehene war wieder real, Gefühle sind wieder erwacht. Anderseits hat es mir gut getan, darüber zu reden, trotzdem ist es nicht einfach. Ich fühle mich manchmal sehr einsam. Da ist eine immer wiederkehrende Leere, ein dunkles Loch, das mich zu verschlingen droht. Jeden Abend, bevor ich einschlafe, träume ich all meine Gefühle von damals noch einmal, immer wieder und immer wieder, in der Hoffnung, dass sie mich irgendwann langweilen. Aber je mehr ich in die Vergangenheit abtauche, umso plastischer erscheinen die Bilder. Ich glaube, ohne Liebe gelingt das Leben nicht. Manchmal frage ich mich, ob ich mein Leben bis jetzt richtig gelebt habe, oder es sich nur so angefühlt hat. Frage mich, ob es wirklich von der Natur so gewollt ist, dass man nur mit einem Mann glücklich sein kann.“
Ich schaue kurz auf, aber Tibor scheint es nichts auszumachen, dass ich ihn so volltexte: „ Kann man sich nicht selbst glücklich machen? Sich selbst wärmen, verwöhnen, liebhaben – sich selbst treu sein? Oder fehlt die Chemie, die Substanzen, wie Sex und Leidenschaft? Warum nimmt man Singles nicht ab, wenn sie behaupten glücklich zu sein? Warum glaubt man nur denen, die zu zweit durchs Leben gehen… die meisten mit einer Mogelpackung. – Was ist Liebe eigentlich?“
Fragend bohre ich mich in Tibors Augen. Es scheint, als würde er durch mich hindurchlächeln.
„Liebe wird oft mit Verliebtheit verwechselt“, antwortet er bedacht, „dabei ist die Verliebtheit ein Zustand geistiger Verwirrung. Das Gehirn schüttet Hormone aus, damit wir uns verlieben, wie ein Zauberkünstler, der vom Wichtigsten ablenkt. Wir sind Marionetten unseres Unterbewusstseins. Der Verstand zieht den Kürzeren, die Erinnerung bestimmt, was wir tun. Verliebte Menschen, das haben Gehirnforscher festgestellt, zeigen die gleichen Symptome wie schizophrene Menschen. Sie befinden sich in einem Zustand geistiger Verstörtheit. Aber nach sechs bis neun Monaten ist Schluss damit. Was dann übrig bleibt, könnte man als Reifeprozess bezeichnen… als Liebe, die bleibt. Eine stille Vereinbarung zwischen zwei Menschen. Man toleriert, schenkt und wird beschenkt. Es ist eine Art Deal. Wer das erkennt und sich daran hält, macht sich und seinem Partner glücklich.“
Ich bin beeindruckt. Ein Taxifahrer, der in der Literaturgeschichte daheim ist – und auch noch in der Biochemie der Liebe!
„Soll das heißen, dass es die schönen Erinnerungen sind, in die man sich verliebt?“, nehme ich seine Einsichten beim Schopf.
„Ja “, pflichtet mir Tibor bei. „Es sind die schönen Erinnerungen, die die Sehnsucht auflodern lassen. Dieses Gefühl bleibt, wird immer intensiver, das geht so weit, dass man unbewusst die
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