Liebe, fertig, los!: Roman (German Edition)
Ticket
in der einen und dem Reisetäschchen in der anderen Hand wandte sie sich ab.
Sie lief an Geschenkläden, Restaurants und Flughinweistafeln vorbei. Kummer umfing sie und lastete schwer auf ihr wie dichter schwarzer Nebel. Sie hielt den Blick gesenkt, fest davon überzeugt, dass man ihr den Schmerz ansah, dass die Leute, wenn sie genau hinsahen, sofort Bescheid wüssten.
Sie würden wissen, dass es auf der ganzen Welt keine Menschenseele gab, der Georgeanne Howard etwas bedeutete. Ob in diesem Staat oder in einem anderen. Sie hatte Sissy, ihre einzige Freundin, im Stich gelassen, und wenn Georgeanne starb, gab es niemanden, dem das etwas ausmachen würde, jedenfalls nicht so richtig. Klar, ihre Tante Lolly würde so tun als ob. Sie würde ihren grünen Beerdigungs-Wackelpeter zusammenpanschen und heulen, als wäre sie nicht insgeheim erleichtert, dass sie sich für Georgeanne nicht mehr verantwortlich zu fühlen brauchte. Georgeanne überlegte kurz, ob ihre Mutter um sie trauern würde, doch sie wusste die Antwort schon, bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Nein. Billy Jean würde nicht um das Kind trauern, das sie nie hatte haben wollen.
Als sie den Boarding Room von Delta Airlines betrat, geriet ihre ohnehin schwache Selbstbeherrschung ins Wanken. Sie nahm gegenüber einer Fensterreihe Platz, schob eine Ausgabe der Seattle Times beiseite und stellte ihr Reisetäschchen auf den Vinylsitz neben ihr. Sie schaute auf das Flugfeld hinaus, und das Gesicht ihrer Mutter stieg vor ihr auf und erinnerte sie an das einzige Mal, als sie Billy Jean getroffen hatte.
Es war am Tag der Beerdigung ihrer Großmutter gewesen, und sie hatte den Blick vom Sarg gehoben und in das Gesicht einer elegant aussehenden Frau mit modisch braunem Haar und grünen Augen geschaut. Sie hätte die Frau
nicht erkannt, wenn Lolly sie nicht ins Bild gesetzt hätte. Sofort hatte sich die Trauer um ihre Großmutter mit Besorgnis, Hoffnung und unzähligen widersprüchlichen Gefühlen vermischt. Ihr ganzes Leben lang hatte Georgeanne auf den Moment gewartet, in dem sie ihrer Mutter endlich gegenüberstünde.
Als Kind war ihr gesagt worden, dass Billy Jean bei Georgeannes Geburt blutjung gewesen war und schlicht und ergreifend noch keine Kinder hatte haben wollen. Deshalb hatte Georgeanne von dem Tag geträumt, an dem ihre Mutter es sich anders überlegte.
Doch mit Beginn der Pubertät hatte sie den Traum von einem Wiedersehen begraben. Sie hatte herausgefunden, dass Billy Jean Howard nun Jean Obershaw hieß und die Frau des Parlamentsabgeordneten für Alabama, Leon Obershaw, und Mutter zweier kleiner Kinder war. An jenem Tag, als sie von der anderen Familie ihrer Mutter erfuhr, hatte sie der grausamen Wahrheit ins Auge sehen müssen. Großmutter hatte sie angelogen. Billy Jean wollte sehr wohl Kinder. Sie wollte nur sie nicht.
Bei der Beerdigung ihrer Großmutter, als Georgeanne Billy Jean endlich mit eigenen Augen sah, hatte sie damit gerechnet, nichts zu empfinden. Doch zu ihrer Überraschung musste sie feststellen, dass sie tief im Herzen immer noch die Fantasie einer liebenden Mutter hegte. Sie hatte an dem Traum festgehalten, dass ihre Mutter die Leere in ihr ausfüllen könnte. Georgeanne hatten Hände und Knie gezittert, als sie sich der Frau vorstellte, die sie kurz nach der Geburt verlassen hatte. Sie hatte den Atem angehalten … gewartet … gehofft. Doch Billy Jean hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt, als sie sagte: »Ich weiß, wer du bist.« Dann hatte sie sich umgedreht und war im hinteren Teil der Kirche verschwunden. Nach dem
Gottesdienst war sie weg, vermutlich zurück zu ihrem Mann und ihren Kindern. Zurück in ihr Leben.
Die Ankündigung eines ankommenden Delta-Airlines-Flugs holte Georgeanne wieder in die Gegenwart zurück. Der Boarding Room füllte sich langsam, und sie schnappte sich ihr Reisetäschchen und nahm es auf den Schoß. Eine alte Dame mit weißen Betonlöckchen und einem Polyesterkittel steuerte auf den nun leeren Platz zu. Automatisch griff Georgeanne nach der Zeitung und räumte sie der Frau aus dem Weg. Sie legte sie auf ihre Reisetasche und schaute wieder durch die Fensterfront auf einen vorbeifahrenden Schlepper mit Gepäckanhänger. Normalerweise hätte sie die Frau angelächelt und vielleicht in ein nettes Gespräch verwickelt. Doch heute war ihr nicht danach. Sie grübelte über ihr Leben und ihre Faszination für Menschen nach, die ihre Liebe nicht erwidern konnten.
Sie hatte sich in
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