Liebe im Zeichen des Nordlichts
verharrt eine Weile am Tor. Er bemerkt das Unkraut, das aus dem Kies in der Einfahrt hervorlugt, und auch den verbeulten Kleinwagen, der neben dem Kellerabgang parkt. Der schwarze Lack an den Geländern müsste erneuert werden, und auf den Stufen wuchern Flechten. Er betrachtet die undurchdringlich schwarzen Fenster, zwei oben und eines unten.
Während er so dasteht, bemerkt er, dass sich am unteren Fenster etwas bewegt. Also schaut er genauer hin, um festzustellen, ob da jemand ist oder ob es sich um eine optische Täuschung handelt. Doch er kann nichts erkennen, nur blindes Glas, aus dem ihm der Himmel unbeugsam entgegenfunkelt.
Im nächsten Moment kommt er wieder zur Vernunft. Ihm wird klar, dass er dasteht und ihr Haus anstarrt. Gaffen gehört sich nicht. Schließlich könnte ja doch jemand zu Hause sein und ihn beobachten. Also wendet er sich rasch ab und hastet den Gehweg entlang wie jemand, der vom Tatort eines Verbrechens flieht. Erst an der Ecke bleibt er stehen. Er schaut in beide Richtungen, um kein Auto zu übersehen, überquert die Straße und schlüpft durch eine Lücke in der Mauer hinaus auf die Promenade.
Er ist müde.
Erst als er sich auf eine Bank fallen lässt, wird ihm klar, wie hundemüde er ist. Er ist so müde, dass er sich an Ort und Stelle hinlegen und einschlafen könnte wie ein Obdachloser. Da ihn hier niemand kennt, wäre das durchaus eine Option.
Dennoch bringt er es nicht über sich, so groß die Versuchung auch sein mag. Also zwingt er sich, aufrecht sitzen zu bleiben, und kuschelt sich tief in seine wattierte Jacke. Es ist eine der seltsamsten Phasen seines Lebens, und er ist völlig ratlos. Er weiß nicht, was er mit sich anfangen soll.
Inzwischen schläft er auch tagsüber. Er kehrt in sein Zimmer in der Pension zurück, eigentlich, um ein paar Stunden zu lesen und sich auszuruhen. Doch schon eine Minute später findet er sich in einer Art Wachkoma wieder. So, als hätte man ihm ein Narkosemittel verabreicht, und er könne dennoch das Gespräch der Ärzte belauschen.
Er schläft und ist sich dabei dessen bewusst. Wie kann das sein? Wie kann man schlafen und gleichzeitig spüren, dass sich das eigene Gesicht unangenehm ins Kissen drückt, dass das harte Taillenbündchen der Jeans einem in die Hüfte schneidet, dass man friert und trotzdem nicht in der Lage ist, unter die Decke zu schlüpfen? Er nimmt wahr, dass irgendwo in den tieferen Etagen der Alltag weitergeht. Ein Staubsauger springt an und verstummt wieder. Ein Telefon läutet und läutet. Bruno liegt da, hört und fühlt das alles, kann sich jedoch nicht rühren.
Wenn es ihm endlich gelingt, sich aus diesem seltsamen Dämmerzustand zu reißen, stellt er fest, dass er zittert und dass sein Blutdruck abgesackt ist. Er friert von innen heraus wie ein Proband in einem wissenschaftlichen Experiment. Um sich wieder einigermaßen normal zu fühlen, muss er sich ins Dorf schleppen und noch eine Tasse Kaffee trinken. Er schläft, und wenn er aufwacht, trinkt er wieder einen Kaffee. Und dann fragt er sich, ob er deshalb nachts an Schlafstörungen leidet.
Es könnte am Jetlag liegen, denkt er, an der Zeitumstellung. Es könnte auch eine Depression sein, eine posttraumatische Belastungsstörung. Nur, dass er sich nicht depressiv fühlt. Eigentlich fühlt er sich einfach nur müde.
Er hält sich vor Augen, dass eine Menge geschehen ist.
Erst vor drei Wochen hat er, einen Pappkarton mit all seinen Sachen darin unter dem Arm, das Lehman-Gebäude verlassen. Draußen auf dem Bürgersteig machten die Touristen Fotos, während Polizisten versuchten, sie hinter die Barrikaden zurückzudrängen. Es gibt hier nichts zu sehen, sagten sie. Sie werden keine Promis zu Gesicht kriegen, nur Leute, die gerade arbeitslos geworden sind.
Auf der anderen Straßenseite hatten sich Fernsehreporter in einem großen Bogen aufgestellt. Ihre Übertragungswagen summten. Im Vorbeigehen fragte sich Bruno, warum sie sich in Formation angeordnet hatten wie ein Vogelschwarm, der irgendeiner unausgesprochenen Regel des Universums folgt. Erst als er sich zu Hause durch die Kanäle schaltete, hatte er den Grund verstanden. Auf diese Weise kam nämlich das Firmenschild der Bank hinter der Schulter des jeweiligen Reporters ins Bild. Beim Sprechen rutschte er ein wenig zum Bildschirmrand und beugte sich zur Seite. »Hinter mir sehen Sie, wie die Mitarbeiter der Bank mit ihrer persönlichen Habe aus dem Gebäude kommen. Viele von ihnen haben den Großteil
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