Liebe in St. Petersburg
gehören.«
Völlig aus der Fassung gebracht, verließ Gregor von Puttlach das Palais der Michejews. Das, was Anna Petrowna zuletzt gesagt hatte, war sein unlösbares Problem: Gab es Krieg, mußte er sich entscheiden! Für Deutschland oder für Grazina …
Bis zur Stunde wußte er keine Antwort auf diese Frage.
Zunächst jedoch schien es so, als kehre die Welt nach dem ersten Entsetzen zur Vernunft zurück. Ein plötzlicher Schlag Österreichs gegen Serbien erfolgte nicht, dafür entwickelten die Diplomaten eine hektische Betriebsamkeit. Überall in Europa wurde verhandelt, wurden Versprechen abgegeben, Verträge bestätigt, Freundschaften versichert. Der deutsche Kaiser telegrafierte täglich mit ›seinem lieben Vetter Nicky‹, und Zar Nikolaus nannte den deutschen Kaiser ›mein lieber Willy‹. Aber alles war nur ein Hinauszögern …
Man brauchte Zeit … Zeit, um die Waffen zu sammeln, die Heere aufzustellen, die Transportprobleme zu lösen, um den großen Schlag bis ins kleinste vorzubereiten.
Drei Tage vor dem Besuch des französischen Staatspräsidenten Poincaré in St. Petersburg traf Gregor endlich mit General Michejew zusammen. Täglich, entweder mittags oder am Abend, war Gregor bei Grazina gewesen und hatte auf Wladimir Alexandrowitsch gewartet.
»Er schläft jetzt sogar im Generalstab!« sagte Anna Petrowna. »Ab und zu schickt er eine Nachricht, daß es ihm gutgeht. Rasputin wird weiterleben. Der Leibarzt der Zarin, Professor Fedorow, ist nach Pokrowskoje gefahren. Rasputin soll im Fieber getobt haben, aber sein Schrei ›Ich bin unsterblich!‹ scheint sich zu bewahrheiten.«
An diesem Abend nun kam Graf Michejew nach Hause. Er wunderte sich nicht, Gregor vorzufinden. Er küßte Anna Petrowna auf das gescheitelte Haar, Grazina auf die Augen und streckte Gregor die Hand hin.
»Sie sind auch zum Großen Zapfenstreich in Zarskoje Selo eingeladen?« fragte er und setzte sich in einen Sessel. Wortlos brachte ihm Anna Petrowna ein Glas Portwein. »Das wird ein Spektakel geben! Die Welt wird staunen!«
»Ich habe gehört, daß Rußland heimlich starke Truppenverbände in den Bezirken Kiew, Odessa, Moskau und Kasan zusammenzieht. Und die russische Flotte steht unter Dampf«, sagte Gregor.
Michejew lachte. »Euer Geheimdienst besteht aus Idioten!« rief er fröhlich. »Wir feiern in St. Petersburg vom zwanzigsten bis zum dreiundzwanzigsten Juli die prunkvollsten Feste des Jahrhunderts, und die lieben Deutschen sehen Gespenster! Aber so ist das mit ihnen, Grazina, sie können, wenn man Truppen zusammenzieht, nur an Krieg denken! Sechzigtausend Mann liegen bei Zarskoje Selo – aber nicht zum Schießen, Gregorij, zum Feiern!« Er streckte die Beine aus, trommelte mit den Fingern auf die Sessellehne und blickte Anna Petrowna an. »Was gibt es zum Abendessen? Ich habe Hunger wie ein Wolf! Ein Braten mit einer französischen Kognaksoße – das wäre richtig! Gregorij, und wir spielen bis dahin Schach!«
Sie gingen hinüber in die Bibliothek, und hier fiel die Fröhlichkeit von Michejew ab. Mit ernster Miene setzte er sich und baute die Schachfiguren auf. »Wie weit kann ich mich auf dich verlassen, mein Junge?« fragte er und ging unvermittelt zum Du über.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, antwortete Gregor und setzte sich straff gerade auf. »Sie mußte einmal kommen, diese Frage.«
»Nun ist sie da …«
»Ich liebe Grazina wie mein Leben und bin deutscher Offizier.«
Michejew hob die Augenbrauen. Sein Blick irritierte Gregor. »Ist das die Antwort?«
»Ja.«
»Ausgesprochen idiotisch! Da habe ich einen Schwiegersohn, den ich auch noch rätselhafterweise wie einen eigenen Sohn ins Herz geschlossen habe, und in einem wichtigen Augenblick haut er mir um die Ohren, daß er die Russen nicht mag.«
»Das habe ich nie gesagt, Wladimir Alexandrowitsch!«
»Ich bin deutscher Offizier …« ahmte Michejew Gregors Tonfall nach, »was soll ich damit anfangen?«
»Du bist russischer General.«
»Das ist etwas ganz anderes.« Michejew eröffnete die Schachpartie und legte dann die Hand auf seinen grauen Bart. »Sehen wir es doch klar, Gregorij: Eine Michejewa heiratet nicht nach Deutschland, sondern ein von Puttlach heiratet nach Rußland! Sehe ich das richtig?«
»Zwei junge Menschen lieben sich, Wladimir Alexandrowitsch, das allein ist maßgebend!«
»Irrtum! Aus den jungen Menschen werden einmal alte Menschen, auch eine himmelstürmende Liebe vergeht … Da muß etwas sein, was die beiden
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