Liebe in St. Petersburg
überall in Europa wehen, sollte man nicht als Vereinsmeierei abtun! Los, Puttlach, hauen Sie ab zu Ihrer Braut …«
Auf den Straßen von St. Petersburg wurden bereits die ersten Extrablätter verteilt. Auf dem Newski-Prospekt, der Prachtstraße der Stadt, standen Soldaten, Studenten, Kaufleute und Frauen in Gruppen zusammen und redeten aufeinander ein. Ein Student hatte sich einen Stuhl aus einem Laden geholt und las mit lauter, begeisterter Stimme das Extrablatt vor. Über hundert Menschen scharten sich um den jungen Mann, der nach der Verlesung die geballte Faust hoch in den Sommerhimmel stieß. »Es lebe Rußland!« brüllte er. »Nieder mit allen Feinden! Es lebe eine neue Welt!«
Gregor saß in einer offenen Kutsche der Botschaft und fuhr zu den Michejews. Es war kein weiter Weg. Die Deutsche Botschaft hatte 1912 ein neues Haus bezogen, das eigens für diesen Zweck von einem deutschen Architekten, Peter Behrens, entworfen worden war. Die Fassade wirkte wie eine Tempelfront, ein wenig zu protzig, aus rosarotem Sandstein; der Giebel zeigte eine Gruppe von nackten Wagenlenkern, über die man in St. Petersburg lange diskutiert hatte, weil der Bau in unmittelbarer Nähe der Isaaks-Kathedrale lag, einem der berühmtesten und schönsten Bauwerke Rußlands.
Graf Michejew war nicht zu Hause, sondern im Generalstabsgebäude, einem riesigen Bauwerk gegenüber dem Winterpalais. Dort blickte er wartend aus einem der 768 Fenster über den großen Dworzowy-Platz, bis ihn der Generalstabschef der russischen Armee, General Jamischkjewitsch, in sein Zimmer rufen lassen würde.
Ein paar Räume nebenan arbeitete seit den frühen Morgenstunden Nikolai Nikolajewitsch, als habe er gewußt, daß der Mord von Sarajewo geschehen würde … Es galt aber auch, einen Staatsbesuch vorzubereiten, der gleichzeitig eine militärische Demonstration von Rußlands Stärke werden sollte. Vom 20. bis 23. Juli hatten sich der französische Staatspräsident Raymond Poincaré und sein Ministerpräsident, der Sozialist René Viviani, in St. Petersburg angesagt. Sie wollten mit den Panzerkreuzern ›France‹ und ›Jean Bart‹ eintreffen und eines galt als sicher: Es würde eine Bestätigung der 1913 geschlossenen französisch-russischen Militärkonvention geben, dieser ›Vereinbarung über Heeresaufmarsch an den deutschen Grenzen‹ …
Nikolai Nikolajewitsch hatte das Programm bereits ausgearbeitet: Eine große Truppenschau auf dem Feld von Zarskoje Selo, ein Großer Zapfenstreich mit dem gesamten Diplomatischen Corps von St. Petersburg – und dazu 60.000 Soldaten aller Waffengattungen! Die Welt sollte noch nie ein solches Schauspiel erlebt haben!
Das alles wußte nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten, und Michejew gehörte dazu.
Inzwischen hatte Gregor das Michejewsche Palais erreicht. Er gab Koppel und Degen dem Lakaien und ging – er gehörte ja sozusagen zur Familie – durch einige feudale Zimmer bis in den Damensalon.
Anna Petrowna saß allein in einem Sessel am Feilster und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Sie blickte hinaus auf die Mojka, über deren Wasser die Sonne glitzerte. Auf den Bogenbrücken standen Spaziergänger und fütterten Schwäne.
Gregor räusperte sich. Anna Petrowna fuhr zusammen und drückte das Papier gegen ihre Brust. Ihr schönes schmales Gesicht war bleich, die schwarzen Augen unnatürlich geweitet. Sie war mit ihren Gedanken weit weg gewesen …
»Ich bin sofort zu Ihnen gekommen, Anna Petrowna«, sagte Gregor, beugte sich über ihre merkwürdig kalte Hand und küßte sie. »Ist diese Nachricht nicht furchtbar?«
»Unfaßbar, Gregorij. Aber er lebt …«
Sie hielt das Papier hoch. Gregor schüttelte verwundert den Kopf. »Irrtum! Er und seine Frau sind tot …«
»Seine Frau?« Anna Petrowna sah Gregor verwirrt an. »Sie war doch im Haus. Ihm allein hat man den Bauch aufgeschlitzt …«
»Sie wurden erschossen! Von einem Serben, einem gewissen Princip!«
»Er wurde erstochen von einer Frau namens Konja Gussewa, einer Hure!« Anna Petrowna hielt Gregor das Papier hin. »Da, lesen Sie! Eine Abschrift des Telegramms an die Zarin. Die Wyrobowa hat sie mir sofort herübergeschickt. Ihre Majestät soll aufgeschrien haben, als sei ihr eigener Sohn getötet worden. Noch lebt er, aber er hat keine Chancen, zu überleben …«
»Ich glaube, wir reden von zwei verschiedenen Katastrophen, Anna Petrowna.« Gregor nahm ihr die Abschrift des Telegramms aus der Hand. »In Sarajewo ist der österreichische
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