Liebe in Zartbitter
Vögel.
Lena, du spinnst, rufe ich mich zur Ordnung. Warum nimmst du nicht gleich den Bus und fährst zurück nach Deutschland?
Bei der Vorstellung, was für ein Gesicht Hendrik Würtz machen wird, wenn er morgen mit der Reisegruppe ohne Fahrzeug dasteht, muss ich unwillkürlich kichern.
Aber selbst wenn ich einen Bus lenken dürfte, Fritze könnte ich so etwas nicht antun. Seinen Reisebus entführen? Niemals!
Ich werde jetzt brav ins Hotel zurückkehren, mein Zimmer aufsuchen, schlafen gehen und morgen eine vorbildliche Reiseleiterin abgeben, an der niemand etwas auszusetzen findet.
Ich schnappe mir die Tasche – das Tuch lasse ich liegen –, verlasse den Bus und schlendere ganz langsam durch den menschenleeren Park.
Im Hotel begegnet mir niemand, nur der Portier nickt mir einen Gruß zu.
„Bonsoir, Mademoiselle...“
Hat er jetzt Boyer oder Bauer zu mir gesagt?
Vor meinem Zimmer angekommen, suche ich nach dem Schlüssel. Aus der Hosentasche ziehe ich den vom Bus, aber wo ist der andere? Hektisch leere ich meine Handtasche aus. Nichts.
Krampfhaft überlege ich, wann ich ihn das letzte Mal in der Hand gehabt habe. In der Kneipe. Als Fritze mir den Fahrzeugschlüssel gegeben hat, habe ich ihn in der linken Hosentasche platziert, den anderen in der rechten. Und als ich den Bus öffnen wollte, habe ich erst den falschen gegriffen.
Ich rekapituliere das Geschehen. Verloren kann ich ihn nicht haben. – Verdammt, wenn ich mich nicht sehr täusche, ist der Zimmerschlüssel auf dem Sitzpolster liegengeblieben – unter meinem Tuch.
Verärgert lasse ich die Luft aus meinen Nasenlöchern entweichen. Jetzt bleibt mir wohl nicht weiter übrig, als noch einmal dorthin zurück zulaufen.
Der Portier scheint etwas verwundert darüber, dass ich nach kaum fünf Minuten das Hotel schon wieder verlassen will.
Ich zögere einen Moment.
Soll ich ihn nach einem Ersatzschlüssel fragen? Es gibt ganz sicher einen. Es ist spät, und ich würde mir den Weg gern ersparen. Aber lohnt es sich, dafür zu riskieren, dass sich mein Missgeschick in der Reisegruppe herumspricht?
„Ich bin gleich zurück!“, rufe ich dem Uniformierten zu und eile erneut hinaus in die Dunkelheit.
XXIII.
„Es war eine Superidee von dir, die Aktion mit dem Berg Akten. Darauf wäre ich so schnell nicht gekommen“, lobt Jean-Paul, mit dem schlaffen Körper des Vize-Präsidenten auf der Rückbank ihres Autos beschäftigt. Nachdem er sich überzeugt hat, dass dem Mann, dem er gezwungenermaßen zu einem unfreiwilligen Nickerchen verholfen hat, nichts weiter fehlt, stellt er sich dem nächsten Problem.
„Was machen wir jetzt mit ihm? Hier kann er nicht bleiben. Wenn er aufwacht und uns erkennt, na dann ‚Bonne Nuit‘“
Von Christian Tulip, der sich hinters Lenkrad gesetzt hat und die Straße beobachtet, erhält er keine Antwort.
Das gibt es doch nicht, denkt der, als er eine weibliche Gestalt aus dem Hotel huschen sieht, und stößt seinen Kameraden über die Lehne des Sitzes hinweg heftig an.
„Sag mal, war das nicht diese Mademoiselle Boyer, Jean-Paul?
Jetzt starren beide der sich eilig in Richtung Park entfernenden Person nach.
„Du hast sie erkannt? Ich konnte leider ihr Gesicht nicht mehr sehen, aber nach Größe, Figur und Haarfarbe könnte sie es sein. – Los, fahr ihr hinterher!“, verlangt der Gefragte kurzentschlossen.
Das reglose Bündel auf der Rückbank sich selbst überlassend, springt er aus dem Wagen, um sich nach vorn auf den Beifahrersitz zu schwingen.
„Mach schon, sonst ist sie weg“, drängt er den Fahrer, als dieser zögert.
Mit gedrosseltem Motor und ohne Licht folgen sie der Frau im Schritttempo, bis die im Park verschwindet.
„Was nun?“
Christian stoppt den Wagen und sieht den Kameraden unsicher an.
„Fahr mit unserem Gast um den Park herum zum anderen Ausgang und warte dort. Ich hefte mich an die Fersen der jungen Dame“, entscheidet der Beifahrer.
„Wenn sie heraus kommt, haben wir sie. – Zwei Fliegen mit einer Klappe. Das ist wie in einem echten Krimi“, murmelt er fasziniert und springt aus dem Auto. Gleich darauf hat ihn die Dunkelheit verschluckt.
Gehorsam startet Christian Tulip den Wagen, nicht ohne vorher einen misstrauischen Blick auf den unfreiwilligen Fahrgast hinter sich zu werden. Doch der gibt keinen Mucks von sich.
Von wegen Krimi, denkt er und beneidet den anderen ein wenig, der die Situation, in die sie sich hineinmanövriert haben, zu genießen
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