Liebe Isländer: Roman (German Edition)
mir darüber klarzuwerden, wann der rechte Moment für das erste »Nun gut« gekommen ist. Das ist der Anfang vom Ende aller isländischen Besuche und natürlich nichts, was ein gastfreundlicher Hausvorstand äußern oder ein höflicher Gast zu lange hinauszögern würde. Das »Nun gut« kommt allerdings nie aus heiterem Himmel, sondern wenn sich das Gespräch dem Ende zuneigt; und zu wissen, wann das erste »Nun gut« eingeworfen werden sollte, fordert größere, speziell isländische Wahrnehmungsfähigkeiten als sonst irgendetwas. Hinein spielt auch jene haarfeine Balance zwischen Nähe und Distanz. Und man sollte weder zu neugierig noch zu desinteressiert sein, zu offen oder zu verschlossen, fröhlich oder mürrisch, munter oder trocken. Niemandem zu nahe treten oder ihn erdrücken. Nicht zu distanziert oder gar arrogant wirken. Eben in Maßen anders sein, so wie andere echte Isländer.
Alles in allem ist diese Prüfung außerordentlich schwierig, und ich komme einfach nicht ohne Straucheln hindurch, solange wir uns vorwiegend über Naturwissenschaft und die Öræfi-Region unterhalten. So locke ich den Gesprächspartner auf mein Terrain und kläre ihn eine halbe Stunde lang über Papageien auf. Nachdem ich einige dieser Tiere als Kind besessen habe, verfüge ich über ausgezeichnete Kenntnisse auf diesem Gebiet. Sie erregen großes Interesse beim Bruder, und er zeigt sich schwer beeindruckt von meinem Wissen. Als ich aufstehe, mich bedanke und hinausgehe, sieht es mir allerdings so aus, als wäre er enttäuscht.
Am Himmel sinkt die Sonne, mächtige Schatten strecken sich ins Land hinein und beginnen es unter sich zu sammeln. Vor die leuchtend roten und blauen Felsformationen werden Gardinen gezogen, und auf den sandigen Weiten des Skeiðarársandur wird alles schwarz-weiß. So ist es also, eine Laus in einem Zebrafell zu sein. Kurz darauf fahre ich in einen Sandsturm, und die Farben kehren sich um. Die Sonne wirdschwarz und der Sand gelb. Im Lavafeld Brunahraun entzündet der lodernde Sandsturm die Lavakegel. Hinterher sehen sie aus wie abgebrannte Streichhölzer. Und die Sonne verdunkelt sich, flammt noch einmal auf und verschwindet. Sterne steigen aus dem silbrigen Meer, das zugleich seine Farbe verliert und mit dem Nachthimmel verschmilzt.
In Kirkjubæjarklaustur steht der Tankwart an den Tresen gelehnt. Seinem Gesichtsausdruck nach scheint er seit dem letzten Herbst in dieser Position zu verharren. Neben ihm steht die Verkäuferin. Sie schweigen beide und starren aus dem Fenster. Ich nehme mir Kaffee und setze mich. In der einen Ecke entdecken zwei junge Burschen soeben das Phänomen Zigarette. Der eine hat leuchtend grüne Haare. Im Radio wird berichtet, dass das Unwetter im Osten angekommen ist. Dass eine Aktiengesellschaft für das Kraftwerk Villinganes gegründet wurde. Ein neues Schwimmbad in Stykkishólmur gebaut werden und eine neue Sporthalle in Grundarfjörður errichtet werden soll. Und dass über den Berufjörður eine Brücke gebaut werden wird. Aus dem Munde des Sprechers klingt das wie kleine Details, vielleicht genau deshalb, weil sie in den Nachrichten sind.
Ein Vater betritt mit seiner Tochter den Straßenkiosk. Sie im Teenageralter. Er beginnt sich Wischblätter anzusehen, und das Mädchen geht zu den Jungen: »Wie sehen denn deine Haare aus!«
»Sie sind grün«, antwortet der.
Der Vater dreht sich um. Auf der Hut.
Ich trinke meinen Kaffee aus. Auf dem Weg nach draußen höre ich, dass das Mädchen angefangen hat zu kichern. Wahrscheinlich hat der Vater seinen Grund, auf der Hut zu sein. Draußen ist es windstill. Draußen ist es völlig still. Und 12 Grad Frost. Als ich hochblicke, schüttelt der Himmel sein grünes Haar.
Morgen
Du liegst hinten im Lappländer. Diese letzte Nacht ist dabei, sich in einen Morgen zu verwandeln, und du bringst es nicht fertig, einzuschlafen. Es ist der 7. März, und das Thermometer zeigt genau 10 Grad minus an. Du hast deine langen Wollunterhosen, einen Fleecepullover und Wollsocken angezogen, du trägst eine Mütze und liegst eingewickelt im Schlafsack unter einer Daunendecke hinten im Lappi. So muss sich ein Embryo fühlen, bevor er hinaus ans Tageslicht gezogen wird. Du stellst dir das vor, steckst dir eine Zigarette in den Mund und windest dich heraus. Der Wagen steht am Gasthaus Bláskógar in Hveragerði, diesem isländischen Florida der älteren Mitbürger und anderer Künstler. Hier ist die Vegetation üppig, eine Kurklinik vorhanden,
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