Liebe Isländer: Roman (German Edition)
wichtigsten sind. Die erste Zigarette am Tag. Die Temperatur des Tages. Die Ergebnisse des Tages.
Und es ist schrecklich kalt. Vorhin, als ich vom Gästehaus Hvammur losfuhr, war das Getriebeöl so zäh, dass es schwer war, zwischen den Gängen zu schalten und das Gaspedal und die Kupplung zu treten. Daher fuhr ich im Schneckentempo durch den schlafenden Ort, entschied mich dann aber, hier zu frühstücken, bevor ich Höfn verlassen würde.
Nein, ich habe nicht im Fischereiheim übernachtet. Der Hauswart hatte sich nicht blicken lassen. Am Ende gab der Junge mir den Tipp, dass auf der anderen Straßenseite ein gutes Gästehaus wäre. »Viel bessere Betten, und Kabelfernsehen.« Das Haus hatte drei Stockwerke, der Besitzer wohnte im obersten. Als ich bei ihm bezahlt hatte, wies er mich im mittleren Stock in ein kleines Eckzimmer mit Blick über den Hafen. Er war ein etwas tragischer Typ, dieser Besitzer, und schien sich eigentlich nicht mit dem Betrieb befassen zu sollen. »Du lässt dann einfach den Schlüssel im Schloss stecken. Ich bezweifle, dass wir uns noch einmal sehen.« Dann ging er weg. Als ich einige Minuten im Bett gelegen hatte, begannen im Stockwerk über mir Pianotöne zu erklingen. So wunderschöne, dass ich dachte, der Besitzer würde eine Jazzplatte spielen, doch dasselbe Lied begann wieder und wieder, und es bestand kein Zweifel, dass er selbst spielte. Den Stücken nach zu urteilen befand er sich zurzeit in einer schweren Seelenkrise. Jedes Stück war wie ein Kapitel seiner Lebensgeschichte, und darin stand, dass er früher im Ausland als Jazzpianist gearbeitet hatte, dann jedoch in irgendeine Ungereimtheit geraten war und beschlossen hatte, sich aus dem Staub zu machen. Dass er dann nach Höfn gezogen war und dieses Gästehaus eröffnet hatte, das er eigentlich gar nicht betreiben wollte, aber von irgendetwas musste er ja leben. Er spielte und spielte und sah doch keinen besseren Zeiten entgegen.
Später am Abend ging ich zum Kiosk und plauderte mit der Verkäuferin. Als ich sie nach dem Besitzer fragte, antwortete sie, dass sie äußerst wenig über ihn wüssten. Er sei nicht von hier. Genau wie ich dachte. Und den Informationen der Verkäuferin zufolge hatte er erst vor kurzem den Betrieb des Gästehauses übernommen. Ich sagteihr, dass er ein guter Klavierspieler sei, und sie erwiderte darauf: »Ja, genau. Der Kioskbesitzer hier hat ihm im Sommer geholfen, das Klavier ins Haus zu tragen, und sich dabei den Rücken kaputtgemacht.« Mehr wusste sie nicht, wies mich aber darauf hin, dass am Abend einige Musiker im Ort wären. Im Gemeindehaus Mánagarður sollte Sólin spielen. Eines der Reedereiunternehmen hatte die Band nach Höfn eingeladen, und der Ball war als Abwechslung für die Saisonkräfte gedacht. »Die Leute müssen sich auch mal ein bisschen austoben dürfen. Die Arbeitgeber hier in Höfn haben inzwischen gelernt, dass es ihnen nichts bringt, die Arbeitskräfte zu überlasten.« Danach erklärte sie mir, wo Mánagarður zu finden sei.
Ich blieb nur für einen kurzen Tanz, wollte nur sehen, ob eine Band wie Sólin in der Welt berühmter würde, wenn sie aufs Land hinauskäme. Auf der Bühne tobte der Sänger Helgi Björns, und auf der Tanzfläche tummelten sich Lehrer und Schülerschaft bunt gemischt. Die Stimmung war der im Café Kultur oder im Gaukur in Reykjavík ziemlich ähnlich. Bevor ich wieder zum Gästehaus fuhr, schlenderte ich durch die Straßen von Höfn und sah den Supermarkt, die Kirche, das Schwimmbad, die Schule. Da stand dies, und dort befand sich jenes. Ich hatte das alles schon mehrfach zuvor gesehen. Um aber eine Verbindung zu dem Ort einzugehen, müsste ich mich in irgendeine Küche setzen und einige Tage verweilen, doch nun war ich schon auf dem Heimweg.
Oh nein. Oh doch. Oh nein. Oh doch. Jetzt hatten die Sportwetter angefangen zu streiten. Der eine von beiden behauptet, dass irgendeine Mannschaft auf dem Außenplatz immer verlöre. Der andere ist da völlig anderer Ansicht. Nach einer Weile lachen sie beide, jedoch nicht ganz überzeugend. Bestimmt wissen sie, dass es die kleinen Details sind, die wichtig sind. Bestimmt wissen sie, dass das, was sich zwischen ihnen abgespielt hat, Einfluss darauf haben könnte, ob sie mit ihrem Tippschein gewinnen.
Einzelne Gabelstapler surren gemächlich vorbei. Höfn erwacht soeben. Gleich werden Wecker klingeln, Lampen in den Küchen angeschaltetwerden, Leute die Gehwege entlanglaufen, Autos durch die Straßen fahren,
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