Liebe ist der größte Schatz
Zweige eines mit noch grünen Brombeeren überwucherten Strauchs zur Seite. Hinter den Zweigen kam eine Höhle zum Vorschein, und für einen Augenblick verharrte Emerald schweigend im Eingangsbereich, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann erkannte sie, was er ihr zeigen wollte: Die Felswände waren bedeckt mit Zeichnungen in roter, schwarzer und brauner Farbe. Es handelte sich um Jagdszenen, Kämpfe und Darstellungen von Menschen, Tausende von Jahren verborgen inmitten der saftig grünen Hügel Englands.
„Taris und ich haben sie entdeckt, als wir noch Knaben waren. Ich habe bislang niemandem von ihrer Existenz erzählt.“
„Aber mir vertraust du euer Geheimnis an? Weshalb?“, fragte Emerald aufrichtig verwirrt.
„Im Schlaf, heimgesucht von Fieberträumen, hast du mir deine Geheimnisse anvertraut. Es ist nur gerecht, wenn ich dir jetzt auch meine verrate.“
„Kommst du oft hierher?“ Emerald wandte sich um und ahnte die Antwort. Wenige Meter vor ihr befand sich ein aus Holz gezimmertes Podest, auf dem ein Fell ausgebreitet lag, daneben stand ein kleiner Tisch mit einer Kerze und einem Stuhl davor.
„Nachdem ich nach Hause kam und erfuhr, dass Melanie gestorben ist, habe ich mir hier eine Lagerstatt errichtet. Die Höhle war der einzige Ort, an dem ich ein wenig Schlaf finden konnte und anfangs …“ Asher hielt inne. „… anfangs hörte ich hier nicht die Stimmen …“
„Stimmen?“
„Die Stimmen der Männer im Gefangenenlager der Piraten … die bei Nacht … die Hölle durchmachten.“
Emerald glaubte, sich verhört zu haben, und als sie ihn prüfend ansah, bemerkte sie, dass seine Augen feucht waren. „Bist du auch durch diese Hölle gegangen?“
„Ja.“
Zorn übermannte sie, ebenso wie Schmerz und Mitgefühl für das Leid, das er durchgestanden hatte und für das sie sich verantwortlich wähnte.
Asher hielt eine Hand gegen das in die Höhle eindringende Licht – die Hand mit den fehlenden Fingern. „Es war ein Spiel für sie, ihre Gefangenen zu verstümmeln. Manche Männer haben weit mehr verloren als ich.“
„Kannst du deshalb keinen Schlaf finden?“
„Ich konnte nicht schlafen, bis du neben mir lagst.“
Seine Worte verliehen ihr Mut. Sie trat auf ihn zu und sagte mit fester Stimme: „Dann liebe mich. Hier.“ Sie weigerte sich nachzudenken, wollte nicht, dass Überlegungen diesen Augenblick reiner und aufrichtiger Gefühle zerstörten. Als er mit seiner Hand über ihren Hals strich, schloss sie die Augen, um nur noch zu empfinden – den frischen Wind im Gesicht, seine Hände auf ihrer Taille, als er sie hochhob und zu dem Lager trug, das warme Fell unter sich, als er sie entblößt hatte. Seufzend gab sie sich ihm hin, spürte ihn tief und innig in sich und fühlte, wie ein süßer Schmerz ihr Herz erfasste. Er nahm sie mit auf die Reise aus der Dunkelheit dieses Ortes hinauf in die Weiten des blauen Himmels und wieder zurück, beobachtet von den Geistern ihrer Urahnen, die zu Beginn der Menschheit hier in dieser Höhle gelebt hatten.
Stunden später entzündete Asher eine Kerze und legte seinen Reitrock über sich und Emerald. Der feine Wollstoff schmiegte sich wohltuend an ihre Körper, denn der anbrechende Abend brachte Kühle zu ihnen in die Höhle. Friedvolle Ruhe umgab sie, wie die Zeitlosigkeit ihres zärtlichen Beisammenseins. Emerald schmiegte ihre Wange an Ashers Brust, die sich unter seinen regelmäßigen Atemzügen hob und senkte.
„Ich kann mir denken, weshalb du Annabelles Angebot abgelehnt hast.“
Sie legte die Stirn in Falten und hob den Kopf, damit sie ihn ansehen konnte.
„Bist du der Kunst des Hellsehens mächtig?“ Sie versuchte sich weiter aufzurichten, doch er hinderte sie daran.
„Nein, ich nutze vielmehr meinen Verstand und mein Urteilsvermögen. Ich denke, du fürchtest dich davor, hierzubleiben.“
Er war der Wahrheit so nahegekommen, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
„Du fürchtest dich davor, zu bleiben, weil du so sehr daran gewöhnt bist, fortzulaufen. Vor deinem Vater, vor dem Gesetz, vor deinen Feinden. Und die Tatsache, dass in diesem Winkel Englands ein Zuhause auf dich wartet, erscheint dir mindestens genauso gefährlich, weil du Emerald Sandford bist, die Piratentochter, die nicht weiß, wie sie damit umgehen sollte, wenn es schiefgeht.“
Emerald schob seinen Arm fort, der auf ihrer Schulter lag, und bestärkt von seiner treffenden Beobachtung bestätigte sie: „Jawohl, so ist es. Ich habe
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