Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge
an. Ich komme wohl um die Wahrheit nicht herum. Also gebe ich ihnen die Nachricht in verkürzter Form wieder. Chris hat mir mitgeteilt, dass er bei seinem Bruder in Chicago sei und gerade an mich hätte denken müssen, deshalb habe er für mich gebetet. Er sei sich sicher, dass Gott noch Großes mit mir vorhabe. Außerdem lese er gerade einen Roman, der sein Leben verändert hätte.
Mir ist schon letzten Monat aufgefallen, dass er jedes weltliche Ereignis auf Gott und das Universum bezieht, um keine aktiven Entscheidungen treffen zu müssen. Er will keine Verantwortung tragen; niemand soll von ihm abhängig sein, und er will noch nicht einmal an Thanksgiving auftauchen. Und wenn er das nicht will, dann interessiere ich ihn auch nicht. Ich habe das Gefühl, ihm in den letzten vier Monaten meine Gesellschaft förmlich aufgedrängt zu haben.
»Rufst du ihn zurück?«, fragt Mom.
»Wahrscheinlich nicht.«
Daraufhin wirft mein Dad ein: »Es ist nicht fair von dir, ihn zu verurteilen.«
»Wie bitte?«
»Du kennst noch lange nicht alle Antworten.«
Ich kann es kaum noch erwarten, hier wieder auszuziehen, denke ich und stampfe wütend nach oben. Als ich die Tür zuknalle, die den ersten Stock vom Erdgeschoss trennt, erwarte ich beinahe, dass mein Vater mir wie in meiner Pubertät nachgelaufen kommt: »Nur weil du wütend auf die Welt bist, brauchst du deine Wut noch lange nicht an der Einrichtung auszulassen!« Ich bin tatsächlich in dieser Stimmung, aber als Erwachsene habe ich gelernt, dass dieses Elend einfach nur daraus resultiert, dass ich von meinem eigenen Leben frustriert bin. Dieser Selbsthass entsteht immer nur, wenn etwas mit meinem Chef oder einem Partner schiefgelaufen ist, und da ich im Moment nirgendwo angestellt bin, muss es wohl meine Frustration darüber sein, dass Chris sich mir gegenüber nicht so verhält, wie ich es gerne hätte. Aber ich weiß trotzdem nicht, wie ich wieder bessere Laune bekommen soll.
Zurückrufen werde ich ihn jedoch nicht. Dads Kritik – »Du kennst noch lange nicht alle Antworten« – beschämt mich, aber nach der Enttäuschung an Thanksgiving werde ich mich hüten, zu viel von mir preiszugeben. Selbst wenn ich ihm nächste Woche im Supermarkt begegnen würde, würde ich lediglich kurz stehen bleiben und ihn gelassen ansehen, und dann würde ich weitergehen. (Ich werde jedoch sicherheitshalber jeden Tag Lippenstift auftragen und hohe Stiefel anziehen, falls ich das Glück haben sollte, ihm zu begegnen.) Ich würde mich freuen, wenn er Interesse an mir zeigte, aber es würde mir mehr Macht verleihen, wenn ich mein Verlangen nach ihm nicht so offen vor mir hertragen würde.
Kenneth, ein Freund aus Highschool-Tagen, und sein Freund geben in ihrem Haus in Pittsburgh eine Silvesterparty. Da ich weiß, dass ich dort noch weitere ehemalige Klassenkameraden treffen werde, fahre ich hin. Auf der Fahrt dorthin enthüllt meine Freundin Margie mir, dass der Junge, mit dem sie seit der Highschool zusammen ist, sich als Krimineller und Polygamist entpuppt hat. Als sie ihn im Oktober im Gefängnis besucht hat, waren noch drei weitere Verlobte von ihm da. Margie ist eine der nettesten, unkompliziertesten Frauen, die ich kenne, und ich kann es kaum glauben, dass ihr ein Mann so etwas antut. »Margie, du hast doch hoffentlich den Kontakt zu ihm abgebrochen?«, frage ich sie.
»Ja selbstverständlich. Was glaubst du denn?«
»Gut. Und lass dich nicht unterkriegen – eines Tages wird ein anständiger Mann kommen und dir sagen, dass du die schönste Frau der Welt bist und er ohne dich nicht leben kann.«
»Ja.« Ihre Stimme wird leise. »Glaubst du wirklich?«
Ich blicke Margie an. »Auf jeden Fall.«
Kenneth nimmt unsere Mäntel mit großer Geste entgegen. Abgesehen davon, dass ich kaum einen der Gäste kenne, die sich in seiner Küche zusammendrängen, komme ich mir vor wie in der Highschool, als er berühmt für seine extravaganten Partys war. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als wir in der Junior High waren, und er wurde von seinem Großvater großgezogen, einem reichen Kohlenhändler bei uns im Ort. Kenneth verblüffte mich mit seinen teuren Vorspeisen, wenn er zum Abendessen einlud. »Kaviar, für mich ?«, fragte ich ihn bei einem der ersten Abendessen während der Highschool, zu dem ich eingeladen war.
»Natürlich, Liebling, für wen sonst?« Er stellte sein Silbertablett ab, und wir prosteten uns mit Grapefruitsaft zu. Obwohl allgemein bekannt war, dass er sich
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