Liebe ist stärker als der Tod
Schmerz nicht hinauszuschreien.
Er konnte nicht sprechen. Sie fragte ihn immer wieder, streichelte sein schweißüberströmtes Gesicht, küßte ihn auf die Augen und den zugekniffenen Mund, und Bouillon saß daneben, winselte und zitterte wie damals, als sie ihn im Regen auflasen und er sich an der matten Wärme eines Kellerfensters wärmte.
»Ich bringe dich zu einem Arzt …«, sagte sie. »Himmel, wo ist hier ein Arzt? In Arles? Pierre … Pierre … Wir müssen nach Arles. Nirgendwo ein Arzt! O diese Camargue … diese verfluchte Camargue …! Pierre … kannst du dich bewegen? Sag doch etwas … nur ein Wort … ein Wort –«
Er schüttelte an ihrer Brust den Kopf und holte tief Luft. Es war, als blase er damit das Feuer in sich noch mehr an. »Keinen Arzt …«, sagte er völlig tonlos. Es war ein Laut, wie ihn Ev noch nie gehört hatte. »Zurück … zurück …«
»Du mußt zu einem Arzt!« rief sie. »Du siehst ja ganz gelb aus! Hast du eine Gallenkolik?«
Eine Gallenkolik. Pierre lächelte nach innen. Wie einfach sie alle denken. Und wie einfach ist es auch: Da sitzt ein Wurm in meiner Leber und frißt mich auf, und keiner kann ihn töten, und keiner kann eine neue Leber in mich hineinpflanzen. So simpel ist das! Wie kompliziert ist dagegen eine Gallenkolik! Ev, es geht zu Ende, ich weiß nur nicht, wie ich es dir sagen soll. Und du wirst es nicht begreifen, das weiß ich auch … wie niemand begreifen kann, wenn ein Mensch, in dessen Liebe man gelebt hat, plötzlich von einem geht. Dann ist die ungeheuer bunte Welt ein farbloses Ding, in das man hineingesetzt ist wie ein Wesen mit Augen, das nur graue Konturen wahrnehmen kann. Das Nichtbegreifen des Todes ist die größte Tragik des Menschen. Ich begreife den Tod … er ist das Mildtätigste, was Gott seiner Schöpfung mitgegeben hat.
»Zurück …«, sagte er mühsam. Der Schmerz verteilte sich jetzt und zog in die feinsten Nervenenden seines Körpers. »Nur zurück, Ev … bitte …«
Sie ließ ihn los, zog ihn auf den Nebensitz, dort fiel er nach vorn, umklammerte das Armaturenbrett und hielt sich fest. Bouillon sprang auf den Hintersitz und leckte Pierre den Nacken. Das weiße Pferd glotzte teilnahmslos ins Auto und wartete auf seinen Reiter.
Ev setzte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor wieder an und fuhr los. Pierre schlug die Zähne aufeinander und knirschte, als der Wagen sich hüpfend in Bewegung setzte und jeder Stoß, jede Unebenheit des Bodens in seinem Körper wie ein Hammerschlag wiederkehrte. Das Pferd sah dem Wagen nach, wendete dann und trabte hinter ›Mes Rues‹ her, holte auf und blieb, mit den Nüstern fast am Dach, hinter dem Gefährt.
Pierre schloß die Augen. Er hörte, wie neben ihm Ev plötzlich zu weinen begann, und er hatte keine Möglichkeit, etwas zu ihr zu sagen, sie mit Lügen zu beruhigen, sie zu trösten, wo es keinen Trost mehr gab. Er lag mit dem Kopf auf dem Armaturenbrett und betete innerlich, daß der Weg bald zu Ende sei und man Le Paradis erreichte, das kleine weiße Haus, das schmale Bett, die Dämmerung eines geschlossenen Raumes. Ruhe, nur Ruhe … liegen können und warten, daß der Schmerz nachließ, daß der Wurm in der Leber nicht weiterfraß … warten auf ein Weiterleben, oder warten auf das Ende. Nur liegen … Ev, du Engel dieser letzten Monate … wie herrlich ist es, sich ausstrecken zu können –
Es war eine Höllenfahrt bis nach Le Paradis.
Kurz bevor aus dem Sonnenglast, dieser letzten, roten Hitze vor dem Versinken der Sonne im glitzernden Wasser des Etang de Vaccarès, die Hütten auftauchten, ließ der Schmerz wieder nach und die Taubheit zog in die Glieder. Das gewohnte Spiel. Ev hielt vor dem Fischerhaus, und Pierre richtete sich mühsam auf und lächelte verzerrt. Er drückte die Tür auf und umklammerte den Dachrahmen, um sich daran hochzuziehen.
»Bleib sitzen!« sagte Ev und hielt ihn fest. »Bist du verrückt, Pierre! Wir tragen dich ins Haus. Beweg dich nicht!«
Sie sprang aus ›Mes Rues‹ und rannte um das Auto herum, weil Pierre sich dennoch hochzog und schwer atmend außerhalb des Wagens stand. Er lehnte sich gegen die Karosserie und starrte in die glutend untergehende Sonne, ein triumphales Verlöschen mit dem Wissen des morgendlichen Wiederkommens. Kommen wir auch wieder, dachte er? François Delmare, das ›Gebetbuch‹, gab auf solche Fragen typisch jesuitische Antworten. »Wer nicht daran glaubt, dem kann man es nicht erklären«, sagte er. »Und wer daran
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