Liebe ist stärker als der Tod
seine Hände und legte sie Pierre auf die Schultern. »Aber wenn ich noch einmal so jung wäre wie Sie und in Ihrer Situation … ich weiß nicht … vielleicht … vielleicht –«
Er schüttelte den Kopf, brachte Pierre bis vor die Tür und übergab ihn dort dem wartenden Müller.
»Es ist nichts, Lucien –«, sagte Doktor Rombard auf einen flehenden Blick Pierres. »Überarbeitung, weiter nichts.« Und zu Pierre gewandt, sagte er leise: »Seien Sie ein mutiger Adler. Ihr Absturz wird schrecklich werden –«
Er blickte dem alten Auto ›Mes Rues‹ nach, bis es hinter einer Biegung des Weges verschwand. Pierre fuhr wieder selbst. Doktor Rombard ging in sein Haus zurück und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er holte aus seiner Tasche einen Zettel, auf den er ein paar Zeilen gekritzelt hatte. Bevor Pierre aus seinem Schmerzrausch erwacht war, hatte Doktor Rombard noch Zeit gehabt, in dem Paß zu blättern und die Papiere durchzusehen, die Lucien, der Müller, ihm gesondert überreicht hatte, als sie Pierre aus der Tasche fielen.
Doktor Rombard nahm den Hörer seines Telefons ab und wählte die Auskunft. »Sehen Sie bitte nach«, sagte er, »ob in Paris eine Madame Lebrun, Rue Princesse, einen Telefonanschluß hat. Hat sie, dann bitte schnell eine Verbindung …«
Pierre malte noch vor Luciens alter Mühle, als in Paris bereits Alarm gegeben wurde. Madame Coco verlor zum erstenmal in ihrem Leben wirklich die Nerven, schrie – alles durch das Telefon – Callac an und beschwor ihn, sich um die besten Spezialisten Frankreichs zu bemühen, flehte Professor Mauron an zu helfen und fiel dann weinend Fürst Globotkin in die Arme, der – von seinen Kameraden verständigt – sofort in der Rue Princesse vorfuhr.
»Er liegt im Sterben!« schrie Madame Coco. »Mein Pierre liegt im Sterben! Und keiner kann ihm helfen! Keiner! Wladimir Andrejewitsch, haben Sie schon so etwas gehört: Ein Hundewurm frißt ihm die Leber weg … Und er liegt da unten in der Camargue und keiner kümmert sich um ihn.«
»Und Ev?« sagte Fürst Globotkin entsetzt.
»Ev weiß doch von nichts. Pierre spielt ihr den Gesunden vor. Dabei weiß er es seit zwei Jahren … Ein Doktor Rombard hat mich angerufen. Pierre wohnt in Le Paradis. Ausgerechnet in Le Paradis –«
Eine Stunde später raste Wladimir Andrejewitsch mit seinem Taxi über die Autobahn nach Süden. Es gab jetzt nur noch eine Wahrheit: Pierre zurückzuholen nach Paris! Marius Callac führte Rundgespräche mit allen ihm bekannten medizinischen Persönlichkeiten, die seine Galeriekunden waren. Die Auskünfte waren niederschmetternd. Als Madame Coco wieder anrief, wagte Callac es nicht, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Was hast du erreicht?« schrie sie. Callac hielt den Hörer von seinem Ohr weg.
»Er muß sofort in die Klinik. Ohne genaue Untersuchung – aber wenn er das schon seit zwei Jahren hat und nichts dagegen getan hat … Cosima, ich … ich muß dir sagen …«
»Keine Hoffnung, Marius?«
»Es sieht fast so aus. Für eine zerfressene Leber gibt es keinen Ersatz …«
Es war gegen neunzehn Uhr, als das Gespräch in Paris stattfand.
Um die gleiche Zeit holte Ev ihren Pierre von der Mühle ab. Auf ihrem weißen Pferd trabte sie neben ›Mes Rues‹ her, und Pierre hatte das Fenster heruntergelassen und rief zu ihr hinauf:
»Ich liebe dich, Ev!«
Und sie rief von dem weißen Pferd zurück: »Ich liebe dich auch, Pierre!«
Und dann gab er Gas, und sie galoppierte neben ihm her, mit wehenden Haaren, der salzige Wind klebte auf ihrer Haut, und neben ihnen, aus einem Tümpel, flogen Silberreiher auf und begleiteten sie ein Stück mit Kreischen und rhythmischem Flügelschlag.
Welch ein Leben! Welch ein herrliches Leben! Welche Wonne, leben zu dürfen! Warum kann man den Wind, das Meer, die Sonne nicht umarmen? Warum sich nicht baden im Abendrot? Warum nicht das Herz ausspülen im Blau des Himmels?
»Heute bin ich schön weitergekommen!« rief Pierre zu Ev hinauf, als sie ihn auf dem weißen Pferd überholte. »Ich habe malen können wie nie!«
Dann sah er ihr nach, wie sie vor ›Mes Rues‹ hergaloppierte, über sich den Schwarm der Silberreiher, neben sich das keuchende Haarknäuel von Bouillon, der tapfer mithielt und neben dem Pferd herrannte.
Wenn es so weit ist, werde ich sie unter einem Vorwand wegschicken und mich umbringen, dachte er. Sie soll und darf mich nicht elend sterben sehen. Das muß ich ihr ersparen, wenn es schon nicht möglich war, ihr die Liebe
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