Liebe ist stärker als der Tod
glaubt, der braucht keine Erklärungen.« Der ›Rote Henry‹ nannte solcherart theologische Rabulistik ›einen Scheißhaufen vergolden‹. Aber wer die Sonne unter- und wieder aufgehen sah, in dieser göttlichen Schönheit wie in der Camargue, begriff etwas von dem Rätsel der Ewigkeit und dem, was man Weiterleben nennt.
»Es ist schon viel besser …«, sagte Pierre mühsam, als Ev ihn umfaßte und seine Arme um ihren Nacken legte. Trotzdem war er froh, daß sie da war, daß er sich an ihr festhalten konnte, daß er jeden Schritt zu dem kleinen weißen Haus, zu dem ersehnten Bett und der stillen Dämmerung des Raumes an sie und ihre stützende Schulter weitergeben konnte.
»Du siehst, ich kann gehen wie ein junges Pferd«, sagte er, als er die ersten Schritte getan hatte. Auch die Sprache kam wieder, wurde verständlicher, erhielt den menschlichen Ton zurück. »Warum weinst du, Ev? Es ist gar kein Grund vorhanden, zu weinen. Es geht mir gut …«
Warum lüge ich weiter, dachte er. Warum jetzt noch? Wie feig ist doch der Mensch, wie erbärmlich feig! Aber ist es wirklich Feigheit?
Er blickte zur Seite auf Ev. Sie stützte ihn, ihr blondes Haar klebte verschwitzt an der Stirn, in ihren Augen hingen noch die Tränen, aber er sah ihr an, daß sie geradezu glückhaft erleichtert war, daß die Tatsache, daß er wieder gehen und sprechen konnte, einen großen Teil des Entsetzens vertrieben hatte. Ich liebe sie, dachte Pierre. Und wenn jetzt Liebe auch zur Feigheit wird – ich kann es ihr nicht sagen. Ich nicht … vielleicht kann es das ›Gebetbuch‹, oder der ›Rote Henry‹ in seiner kaltschnäuzigen, verdammt kräftigen Art, oder Madame Coco, mütterlich und weise … irgendeiner muß und wird es tun … nur ich nicht! Ich liebe sie zu sehr, um ihr meinen Tod ins Gesicht zu sagen.
Sie erreichten das kleine Haus. Der Fischer war unterwegs mit zwei Pferden zu einem Reitstall für Touristen. Ein Omnibus voller Schweden war gekommen, und nun reichten die vorhandenen Pferde des Stalles nicht aus, weil jeder Schwede wie ein Gardian über die Camargue-Steppe reiten wollte. Pierre ließ sich zu dem schmalen Bett führen, legte sich und streckte sich aus. Hundewurm, dachte er dabei, laß mich jetzt in Ruhe. Du hast zweimal an meiner Leber gefressen, nun bist du satt! Laß mich weiter Theater spielen, hab Mitleid, auch wenn du nur ein Wurm bist und nicht weißt, was draußen in der Welt passiert.
Er starrte an die Decke, roh behauene Balken, vom Alter geschwärzt und gebogen. Dazwischen die weiß gekalkten Lehmflächen, mit der Kelle angeworfen und so getrocknet. Dann war die Decke weg, und er blickte in Evs Augen.
»Was war das?« fragte sie. Und als er antworten wollte, sagte sie ernst: »Nein, sag die Wahrheit, Pierre! Das hast du nicht zum erstenmal gehabt. Du kennst das. Du hast es mit Routine überstanden, wie ein Artist auf dem Hochseil. Ich bin nicht blind –«
»Ev …«, sagte er schwach. »Ach Ev, ich liebe dich …«
»Ist es die Galle, Pierre?«
»Nein.«
»Die Niere?«
»Nein.«
»Der Magen?«
»Auch nicht. Ev, wenn du das Bild sehen würdest, das ich von der Mühle gemalt habe …«
»Die Bauchspeicheldrüse?«
»Nein –«
Sie schwieg und dachte nach. An die Leber denkt sie nicht, dachte er fast glücklich. Aber dann fragte sie es doch. »Eine Leberentzündung? Du siehst aus, als hättest du die Gelbsucht. Hast du etwa eine Leberentzündung?«
Und er konnte antworten »Nein!« und brauchte nicht einmal zu lügen.
»Wir fahren morgen nach Arles zum Arzt!« sagte sie bestimmt. »Du sagst immer nein, aber ich will wissen, was du hast.«
»Morgen wird ein schöner Tag sein«, sagte Pierre und umfaßte mit beiden Händen ihren Kopf. Sie waren sich ganz nah und sahen sich an, und in diesem Augenblick bestand die Welt nur noch aus ihnen. »Sonne und Wind vom Meer, und die rosa Wolken der Flamingos werden über die Etangs schweben …«
»Morgen stehst du unter einem Röntgenschirm, mein Lieber«, sagte sie nüchtern. »Und ein Bild von den Flamingos hänge ich dir übers Bett, wenn du in einem Krankenhaus liegst. Glaub nicht, daß du mich belügen kannst! Ich habe dir gesagt, es gibt nicht mehr dein Leben und mein Leben, sondern nur noch unser Leben!«
»Ev, es ist so fürchterlich –«, sagte er mutig. Mein Gott, hilf mir, flehte er. Laß mich diese Schranke überspringen!
»Was ist fürchterlich, Pierre?«
»Ich sterbe, Ev –«
Dann war es still zwischen ihnen, ganz still. Sie sahen
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