Liebe stand nicht auf dem Plan
Vorname und Wohnort, wenn er Anja damals die Wahrheit gesagt hat, ist die gesamte Datenmenge, die sie von ihrem Vater hat. Sein Handy-Provider, das Arbeitsamt oder das Finanzamt wissen mehr über ihn. Falls es ihn gibt.
Maika stellt fest, dass ihre Mutter und ihr sogenannter Vater aus Neuglobsow seit ihrer frühesten Kindheit alles genau nach Vorschrift machen, wenn es darum geht, ihr Leben in den Sand zu setzen, es zu vermasseln, und zwar nachhaltig. Sie wehrt sich dagegen, es ihnen nachzutun, aber wenn sie Anja helfen will, läuft sie gegen die Wand. Mittlerweile zuckt sie zusammen,
wenn das Telefon klingelt. Entweder beschwert sich der Hausmeister über den Krach, oder Nachbarn haben Anja irgendwo rumliegen sehen. Dauernd stürzt sie. Und seit Wochen ist der Fahrstuhl außer Betrieb. Anja schafft es kaum noch die Treppen hinunter, geschweige denn wieder hinauf in den vierten Stock.
Der Himmel überm Hafen hat einen diesigen orangefarbenen Ton. Das Geheul der Gabelstapler aus dem Containerhafen wird unterbrochen von einem selbstgefälligen, lang gezogenen, satten Dröhnen. Sehr tief, sehr langsam und sehr gewaltig schiebt sich das Nebelhorn durch die Nacht, pflügt sich durch die Wohnstuben der Eingeborenen, weckt die Neugeborenen auf, und die aufgeweckten Kleinstkinder im Wohnblock grüßen mit Gebrüll zurück.
Maika versucht, die Babybrüllstimmen zu zählen. Bei neun hört sie auf. Erwachsenengeschrei mischt sich dazwischen: »Halt die Klappe! Sonst setzt’s was!«
Maika seufzt. Unten spiegelt sich die fahle Eingangsbeleuchtung auf einem Glatzkopf wieder. Der Typ wartet, bis sein Hund einen Haufen auf den schmalen Grünstreifen neben den Gehweg geschissen hat. Er zeigt mehr Geduld als die Mütter und Väter, die ihre brüllenden Kinder wieder zum Schlafen kriegen wollen. Mehr oder minder pädagogisch wertvoll. Es ist eine dieser Nächte, wo kein Schwein schlafen kann. Also zieht Maika das Fenster wieder zu, Lippenstift und Lidstrich nach, die Jacke über und die Wohnungstür hinter sich ins Schloss.
In den Straßen kreischt Partyvolk. Zwei Uhr, Sonntagnacht, da geht’s erst richtig los. Deejay Krk heizt im Club ein. Unwahrscheinlich, dass das Pack dazu lethargisch rumhängt. Maika setzt darauf, dass alle ausreichend mit sich selbst beschäftigt sind und sie eine reelle Chance hat, einfach vor sich hinzutanzen. In der
Ruhe, die in der Mitte des Orkans vorherrschen soll, vor sich hintanzen … allein … Das will sie jetzt. Mit Keath wär’s schöner, aber der wird nicht da sein, schade, schade. Es ist nie einer da, wenn man ihn braucht. Mit Keath hat sie vor Monaten zum letzten Mal getanzt. Das war das Beste, so kommt es Maika vor, was ihr in den vergangenen Lichtjahren passiert ist. Erotisches Prickeln pur, obwohl er sein Ich bin dein Kumpel -Grinsen aufgesetzt hatte. Gefühlt waren sie ein Körper, das zählt.
Hinter Maika kreischt ein Mädchen, »lassmichlassmichlosduidiot«. Maika dreht sich nicht mal um. Tag und Nacht wird geschrien, meistens im Suff, oft im Streit, und immer hört es sich für sie verzweifelter an, als es von den Brüllaffen gemeint ist. Den Fehler, vermeintlichen Opfern helfen zu wollen, macht sie schon lange nicht mehr. In der Regel kreischen die sofort »Kümmerdudichumdeinscheiß!« Sie will weg aus ihrem Stadtteil. Hier wird man irre. Vor allem, wenn Kinder schreien. Haben sie Schmerzen oder bloß Spaß? Sie kann es bei denen nicht mehr unterscheiden und bei sich auch nicht. Alle brüllen ununterbrochen. Dann doch lieber richtig vom Sound in die Mangel genommen und durchgedreht werden, denkt Maika und verschwindet im Club.
Sie winkt Lars zu. Er steht hinter der Bar wie üblich. Tageslicht kann er nicht ab, und auch sonst hat er Ähnlichkeiten mit einem Grottenolm, dünn, sehr lang, blass mit rosa T-Shirt. Seit der Eröffnung des SOUND CLUBs arbeitet er für Leif ab zehn an der Bar. Feierabend macht er, wenn die letzten Gäste nach Hause zuckeln.
Maika schiebt sich durch das Gedränge Richtung Tanzfläche. Für ihren Geschmack ist es zu voll, aber dann schließt sie die Augen und überlässt sich dem, was Krk an Frequenzen aus den Boxen haut.
Bis jemand ihr Gleichgewicht stört und sie am Arm von der Tanzfläche zerrt.
»Hä, was soll das?« Maika stolpert Mehmet hinterher.
»Du musst mir kurz helfen«, sagt der, ohne sich umzudrehen.
»Zweimal an einem Tag? Du bist dabei, ne chronisch einseitige Sache aus unserer ehemals gleichberechtigten Zusammenarbeit zu machen«,
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