Liebe stand nicht auf dem Plan
nicht? Sie schluchzt und würgt. Der Hund hinter ihr dreht durch. Hupen, wildes Gebell, Geschrei. Was, wenn der jetzt den Penner zerfleischt? Sie muss am Hotel Imperial vorbei … Nora spürt plötzlich ein tonnenschweres Gewicht in den Beinen und starrt auf den LKW vor ihr. Dunkel, drohend, kein Fahrer. Die schmale Durchgangsstraße zur Reeperbahn ist versperrt, vorm Ausgang des Krimi Theater blockiert eine Armee von Mülltonnen den Weg. Kein Durchkommen, kein Mensch, nur das riesige Logo
des Theaters: ein blutroter Kreis und ein schwarzer Revolver auf weißem Grund. Und daneben, auf den Plakaten: Der Engel des Schreckens und Der Hund von Baskerville. Riesige Zähne, sabbernde Lefzen. Sie sitzt in der Falle.
Ron zerrt Attila über die Straße. Mit der Linken umklammert er die Flasche, die er zweimal seinem blöden Köter übergezogen hat, weil der nicht mehr wegzukriegen war von dem stinkenden Penner. Und danach hätte er sie fast gegen den Benz geschleudert, aus dem die Alte gekeift hat, dass sie die Bullen ruft. Er kneift die Augen zusammen und sucht die Straße ab, weit kann die kleine Schlampe nicht gekommen sein. Attila hängt an der Leine, winselt und sucht den größtmöglichen Abstand zur Flasche. Da sieht Ron ganz vorne, wo die Straße rechts abbiegt, eine Bewegung.
Nora flüchtet parallel zur Reeperbahn die Seilerstraße hinunter. Es ist der letzte Ort, wo sie hinwill, aber die einzige Möglichkeit. Sie keucht am Hintereingang der Live Peep Girls vorbei und an den Hintereingängen zum Sex-Kino, der Spielothek, noch einem Sexclub und noch einer Spielothek. Die Seilerstraße ist der Hinterausgang der Welt, trostlos, verlassen und bis auf die trübe Neonbeleuchtung der Hinterausgänge … dunkel. Die grellbunten Eingänge öffnen sich zur Reeperbahn. Da will sie hin. Da muss sie hin, und zwar schnell! Ein Schnürsenkel ist aufgegangen, der Turnschuh rutscht und sie hat keinen Halt mehr. Nora taumelt, geht unter, der ganze Albtraum holt sie ein. Das Keuchen im Nacken, das große, schwere Klatschen der Sohlen. Vier gehetzte Schritte von ihr kommen auf einen hinter ihr. Mit letzter Kraft rennt sie an der Post vorbei und quer über die Straße auf das gelbe Sexkino zu. Multishow 3, – €, riesige gelbe Lettern auf Blau, tröstlich wie bei Ikea. Und endlich Menschen, ein paar wenigstens! Einer dreht sich um, stiert ihr hohl entgegen und
schwankt, vollkommen breit. Nora krächzt, holt Luft, und endlich scheuert sich ein Schrei aus ihrer engen Brust an der wunden Kehle vorbei. Der Mann schüttelt den Kopf, was ihn auf der Stelle aus dem Gleichgewicht wirft. Sonst reagiert niemand. Wo soll sie bloß hin?
»Nora!«
Neben ihr quietschen die Bremsen von Orhan Gündürs Türk-ThaiKickBoxSchul -Transporter, so steht’s im Airbrush-Verfahren auf die Seitentür gesprüht. Mehmet reißt sie auf. »Steig ein, und verrat mir, was du hier verloren hast! Ich hab dich überall gesucht! «
Mit einem Sprung ist Nora drin.
Ron zieht sich in eine Toreinfahrt zurück und drückt Attilas Schnauze zu. »Isch mach dich tot. Halt’s Maul, Alder«, zischt er.
Attila hält die Luft an und winselt nicht.
So schnell sie kann, haut Nora die Tür hinter sich zu. Ihr T-Shirt ist total versaut und eingerissen. Sie ringt nach Atem, und in ihren Augen steht die nackte Panik.
»Ich seh mal nach«, sagt Mehmets Onkel.
Nora schüttelt wild den Kopf, aber er ist schon aus dem Wagen gesprungen. Dem Mädchen hat wer zugesetzt, und so erschüttert wie sein Neffe sie anstarrt, gehört sie zur Familie, also kuckt er nach, wer von den Kandidaten da draußen ihm dafür eine Erklärung geben kann.
»Nora«, sagt Mehmet und zupft einen Fetzen Brathähnchenhaut von ihrem T-Shirt. Er hofft, dass es die Haut von einem Brathähnchen ist. Farbe und Geruch nach könnte es … die Haut von … unglaublich vielem sein.
Mit einem halb verschluckten Schluchzer lässt sie ihren Kopf
auf seine Schulter fallen. Mehmet hält sie fest. »Einfach wegrennen, das geht doch nicht. Sogar die Leckerschmecker-Börek und unvergleichlichen Kadin Budu hast du vergessen«, brummt er und stößt mit dem Fuß die Lohntüte an, während er versucht, das halb verweste, klebrige Glibberzeug von den Fingern zu schütteln.
»Weg hier, wenn der…« Noras Gestammel wird von Mehmets Handyklingeln unterbrochen.
»Warte, ich versteh kein Wort«, sagt er, dann folgt eine Serie »hm, ja, ja, okay«.
Ron drückt sich in der dunkelsten Ecke an die Wand. Er kennt den Bus, er
Weitere Kostenlose Bücher