Liebe stand nicht auf dem Plan
sitzt Nora in der Pause am liebsten auf dem Mäuerchen vis-à-vis des Schulportals im Halbschatten der Blutbuche, der zu Ehren einmal im Jahr das große Buchenfest gefeiert wird. Alle Schüler wissen, wie alt sie ist. Einhundertzwei Jahre älter als Nora, sehr beruhigend findet sie das, und sie liebt das Rauschen der Blätter im Wind, ihre Farbe. Unter dem Blätterdach sehen alle verwandelt aus. Gesichter leuchten wieder, selbst wenn sie fünf Minuten vorher im Unterricht noch so hirnlos ausgesehen haben wie Nora, die selbst nach einem Tag Sonntagsruhe immer noch unter den Folgen der nächtlichen Flucht und Schlafmangel leidet. Unter der Buche wirkt sie fast wieder lebendig. Glanz kehrt in ihre sinnentleerten Augen zurück. Und endlich gibt’s was zu futtern.
Yolanda ist keine gute Köchin. Sie ruiniert Lebensmittel nicht, dazu ist sie zu sparsam. Aber sie ist weit davon entfernt, Geschmack aus den Speisen herauszuholen oder hineinzuzaubern wie Mehmets Mutter und Tanten. Als sie den Beschneidungsfest-Rest-Börek aus der Verpackung holt, läuft Nora das Wasser im Munde zusammen. Sie beißt gerade hinein, als einer aus der 11. auf sie zusteuert. Die bestellte CD will er haben. Und er ist
nicht allein. Ein paar andere folgen ihm, denn es hat sich herumgesprochen, dass Nora Live-Mitschnitte vom Polite Punks -Konzert beim Rebellion Festival in Blackpool aufgetrieben hat.
Sie schafft es mit einer Hand, die CDs aus ihrer Jackentasche zu kramen, und die entgegengenommenen 5 € in der Hosentasche zu versenken. Mit der anderen hält sie ihren Börek fest und mampft. Die Mitschüler frotzeln, aber Nora stört das nicht.
»Ätzend«, kommentiert Katie. Sie hat registriert, dass der Neue, dem sie die Schulanlage zeigt, zu dem kleinen Schülerauflauf unter der Buche rübersieht.
Ihn haut es fast aus seinen abgelatschten Lieblingsturnschuhen, denn das, was die da drüben treiben, gleicht in den Bewegungsabläufen und Gesten eins zu eins den Drogendealerszenen in TV-Krimis, und er fragt sinngemäß und baff die Mitschülerin: »Sind wir auf dem Schulhof oder dem Drogenumschlagsplatz? «
Bei ihm klingt das so: »Des glab i ja goned! Bei eich im Norden schneit ’s a im Somma? Mittn auf’m Schuihof?«
Schnee? Katie versteht zunächst kein Wort, stellt dann aber schnell richtig: »Nein, die verkauft keine Drogen. Das ist Nora, äh, Lewandowska …« Sie betont übertrieben den slawischen Sprachduktus »… aus der Zehnten.« Wird ebenfalls übertrieben gedehnt ausgesprochen. »Die macht sich bloß wichtig mit ihrer Musik. Echt total bescheuert.«
Das findet der Neue nicht. Er findet Nora und ihre Musik interessanter, als sich die Sporthalle zeigen zu lassen, die jeder Depp von Weitem an ihrer Hallenarchitektur erkennen kann. Zum ersten Mal findet er hier in Hamburg etwas interessant. Die letzten drei Tage war er nur frustriert. Seit dem Umzug, zu dem ihn seine Eltern quasi gezwungen haben, hätte er kotzen können vor Wut. Er hat sich von den Profis, Dipl. Psych. Petra Moßbacher und/oder
Mom, sowie Studienrat Dr. Stephan Moßbacher und/oder Dad, mal wieder bewusstlos quatschen lassen. Sie, die Einzigen, die ihn Daniel nennen und nicht Dali, wie Menschen, die es gut mit ihm meinen, haben ihn mit ihrem blöden NEUANFANG zwangsbeglückt. Er wollte nicht weg von Harkirchen. Seine Kumpels sind da, Mary ist da, da hatte er Sex! Alles was er mag, ist da, bloß er nicht mehr. Die schönsten Graffiti in den Landkreisen Starnberg und Berg stammen von ihm. Er hat mit seinen Sprühaktionen die Initiative Bauer sucht Sprayer ins Leben gerufen. Wie viele Nächte ist er mit scheppernden Dosen im Rucksack zu Fuß oder auf dem Rad von Bauern mit Hunden durch die stillen Dorfstraßen gehetzt worden. Kruzifix! Er hatte Spaß, bis seine Eltern ihm ihren beruflich bedingten Umzug als eine Art beknackte Bewusstseinserweiterung verkaufen wollten. Großstadt, City, Metropole, urbane Lebensform, wake up, in a city that doesn’t sleep, trallala, blablabla. Jedes zweite Wort war »Großstadt«, als würden sie nach New York, Los Angeles, Tokio, Hongkong, Rio oder London gehen und da eine neue Praxis und Schulklasse übernehmen – nicht in Hamburg. To find I’m king of the hill, head of the list, cream of the crop, at the top of the heap … Hill! Haha. Top! Haha. Der Hasselbrack ist mit 116 Metern und 10 Zentimetern die höchste Erhebung im Umkreis Hamburg, so viel Überblick hat er sich schon verschafft. Sein Mountainbike kann er hier nicht bis an
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