Liebe stand nicht auf dem Plan
Großmutter Babka bereitet sich schon vor.
»Vielleicht komm ich nicht mit«, sagt Nora.
Das Ticken der Küchenuhr ist plötzlich sehr laut.
»Wieso?«, fragt Yolanda und gibt sich wirklich Mühe, nicht so erschüttert auszusehen, wie sie sich fühlt. Bisher war es so, dass die Sommerferien die einzige Zeit im Jahr waren, wo alle drei Zeit füreinander hatten. Und nicht nur das. Sie hatten auch Spaß miteinander, das hat sie jedenfalls angenommen.
»Vielleicht muss ich arbeiten …«
»Für die Schule? Quatsch, du machst Ferien! Alle machen Ferien! «
»Nein, im Club. Ich will den Job nicht verlieren, und wenn wir in den Ferien arbeiten müssen, dann mach ich das«, sagt Nora bestimmt.
Yolanda spürt, dass sie nicht gegen die Enttäuschung ankommt, die sich in ihr breit macht. Sie fühlt sich zurückgestoßen, obwohl sie es nicht will.
»Ist ja noch jede Menge Zeit bis dahin«, sagt Nora.
»Wenn du nicht mitkommst, wird Babka heulen. Sie geht an den Strand, blickt Richtung Hamburg und vergießt unzählige
Tränen aus Heimweh nach dir. Du weißt, Danzig liegt nur zwei Meter überm Wasserspiegel.« Yolanda sieht Nora an. »St. Petersburg nur drei und St. Pauli vier …«, Pause, »… Nora.«
»Na klasse …Matka. Die Wirtschaft kriselt, bricht zusammen, löst sich auf, aber für mich gibt’s nur eins: Urlaub machen. Von allen Seiten Druck. Leistungsdruck, finanzieller Druck und moralischer Druck. So hab ich’s gern. Und selbst am steigenden Wasserspiegel bin ich auch schuld. Schuldgefühle sind ein starkes Gefühl und motivieren richtig gut.«
Wie immer kurz vor Schluss ist die Post rappelvoll. Die Schlange reicht bis zur Tür. Nora knallt der Knauf ins Kreuz, als sie hinter ihr zuschnappt. Schlechte Laune wabert bis zu den beiden offenen Schaltern und wieder zurück. Genervte Stimmen lösen mürrisches Schweigen ab, bis sich alle wieder zunicken und sich unfroh einig sind: Auf der Post und in der Bahn geht’s zu wie in der Ex-DDR, nichts funktioniert. Die Energie der Bürger wird aufgesaugt und sinnlos vernichtet. Drei Schalter zu, und um sechs, wenn die Hauptkundschaft anrollt, den Laden dichtmachen. Was soll das?
Nora steckt die Stöpsel ins Ohr und dreht Ugly & Brilliant auf. Die trostlose Umgebung verschwindet. Der Rhythmus nimmt sie auf eine Zeitreise mit aus Klang, Sehnsucht und Wut. Sie stürzt in ihr eigenes Ich, kurz aber heftig, bevor sie wieder hinter die Grenze ihres Erlebnishorizonts zurückkatapultiert wird. Hinter ihr drückt und drängelt einer.
Ihre Fußspitzen berühren die gelbe Diskretionslinie, und das heißt: Gleich bist du dran! Was bedeutet: Schuften, spuren, Stechuhr, Beeilung – egal, wo: an der Supermarktkasse, auf der Bank, wenn du dran bist, bist du dran. Da hilft dir keiner. Also türmt Nora Päckchen auf Päckchen aus ihrem Hackenporsche
aufeinander, und das kommentiert der Typ, der jetzt hinter ihr auf der Diskretionslinie herumvibriert, als würde er in den nächsten Sekunden einen Senkrechtstart hinlegen, so kurz vor Schluss. Unverschämtheit. In dem Alter kann man sich die Zeit auch so einteilen, dass man der arbeitenden Bevölkerung den Vortritt lässt … blablabla …
Das Ende der Tirade kriegt Nora nicht mit, denn obwohl es 37 Päckchen sind, ist sie schon fertig. Die Postbeamtin lächelt ihr zu. Beide tauschen die Andeutung eines Augenverdrehens aus, und Nora eilt hinaus.
Die Luft in der Filiale war schlecht, vermieft bis aufgebraucht, aber Nora hält sich nicht mit Aufatmen auf, denn rechts neben der tristen Grünbepflanzung meditiert einer mit Playboy-Cap auf der Platte über seinen Hund, der auf dem Gehweg seine Notdurft verrichtet. Ein dampfender, frischer Haufen. Hund und Herr erinnern Nora an die nächtliche Horrorverfolgungsjagd, und sie flitzt mit der Einkaufskarre nach links weg. Auweia, denkt Nora, ich bin hart an einer Paranoia, wenn ich in meinem Quartier nicht durchdrehen will, muss ich dringend meine Panik in den Griff kriegen. Aber im Hinterhof vorm Club bekommt Maikas Prophezeiung, dass Bestrebungen einer feindlichen Club-Übernahme im Gange sind, neues Futter. Ein Kerl mittleren Alters, im Outfit eines Immobilienfritzen, fotografiert den Club.
»Guten Abend«, sagt Nora höflich.
»Guten Abend«, sagt er.
Mit ihrem mittlerweile geschulten Ohr glaubt Nora eine bayerische Einfärbung herauszuhören.
11
Trouble and Drunk of Spanish Punk
Keath ist geschmeidiger in der Hüfte als die Wackelpuppe Elvis. Noras Herz setzt einmal aus, als sein
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