Liebe sucht sich einen Weg
sich nicht verstehen.“
Aber genau so war es. Früher, als Anna noch keinen Vierbeiner besaß, waren sie hin und wieder ein Stück gemeinsam gegangen, wenn sie sich begegneten: Anna war meistens auf dem Weg zur Arbeit und er zu dem nahegelegenen Fitnessstudio, das er vor noch nicht allzu langer Zeit eröffnet hatte. Auch einen Teil des Heimwegs hatten sie gelegentlich miteinander zurückgelegt, bis zu der Kreuzung, wo Julius abbog, um mit Bero einen Abendspaziergang im Gartengelände zu machen.
Sein Hund war immer bei ihm, er begleitete ihn auf Schritt und Tritt durch den Tag. Damals hatte Bero noch ganz anders reagiert, wenn er Anna zu Gesicht bekam. Er war wedelnd auf sie zugelaufen und an ihr hochgesprungen. Julius hatte sich ebenfalls immer gefreut, wenn er sie zufällig traf, denn er hatte gern ein wenig Gesellschaft auf dem Hundespaziergang. Über alles Mögliche hatten sie sich unterhalten und dabei auch viel gelacht.
Anna war Arzthelferin und erzählte ihm von den lustigen und traurigen Geschehnissen in ihrem Praxisalltag. Zum Beispiel von dem Punk in Stiefeln und Lederkluft, der solche Angst vor einer Impfung hatte, dass er die Flucht ergriff, während sie die Spritze aufzog. Das Aufheulen seines Motorrads war das Letzte, was sie von ihm gehört hatte.
Grinsend hörte Julius zu. „Der arme Kerl“, sagte er. „Hattest du gar kein Mitleid mit ihm?“
„Soll ich aus dieser Frage schließen, dass du ebenfalls Angst vor Spritzen hast?“, frotzelte sie und der Schalk stand ihr in den Augen.
„Na ja, ich reiße mich bestimmt nicht darum“, erwiderte Julius. „Aber weglaufen würde ich nie.“ Dass ihm ganz flau wurde, wenn er nur an eine Injektionsnadel dachte, behielt er lieber für sich.
„Du kannst mir nichts vormachen, ich kenne euch“, gab Anna zurück. „Ihr Männer seid furchtbar verwegen. Todesmutig riskiert ihr völlig sinnlos Leib und Leben, zum Beispiel im Straßenverkehr. Und in euren Erzählungen seid ihr stets die Superhelden. Aber wehe, man kommt euch mit einer Spritze zu nah.“
„Jetzt habe ich dich durchschaut!“, rief Julius. „Ich wette, es macht dir Spaß, Leute mit ellenlangen Nadeln in Angst und Schrecken zu versetzen. Du bist eine heimliche Sadistin!“
„Da sieht man es mal wieder“, entgegnete sie. „Menschen schließen immer von sich auf andere. Wenn hier jemand ein versteckter Sadist ist, dann bist du das. Du quälst die Leute stundenlang an den Foltergeräten in deinem Fitnessstudio und freust dich herzlich, wenn sie stöhnen, schwitzen und hinterher teuflischen Muskelkater bekommen.“
„Das freut mich tatsächlich“, antwortete er. „Denn jeder, der bei mir stöhnt und schwitzt, bezahlt dafür. Und wenn er bei meiner fachkundigen Anleitung Muskelkater bekommt, weiß ich, dass das Training etwas bringt und dass er es dringend nötig hat.“
Anna schüttelte den Kopf. „Die Menschen sind verrückt. Da geben sie viel Geld aus, um in einer miefigen Schwitzbude ...“
„Stopp!“, unterbrach er sie. „Da muss ich protestieren. In meinem Fitnessstudio müffelt es nicht! Außerdem redest du wie ein Blinder von der Farbe. Du warst ja noch nie da.“
Doch Anna ließ sich nicht beirren. „Nicht im Traum würde es mir einfallen, Geld dafür zu bezahlen, dass mich jemand in schlechter Luft piesackt, wo ich mich ganz kostenlos und entspannt draußen in der frischen Luft bewegen kann.“
„ Du würdest bei mir sogar einen Sonderpreis kriegen.“
„ Umsonst wäre noch zu teuer!“
Ja, das war ein Punkt gewesen, über den sie sich nie einigen konnten. Er hatte hin und wieder versucht, sie umzustimmen. „Du wirst sehen, es ist toll!“, hatte er geschwärmt. „Wenn du die ersten Erfolge siehst – das motiviert! Und je länger du trainierst, je mehr du an deine Grenzen gehst, desto besser fühlst du dich. Du kannst richtig high davon werden.“
„Ich berausche mich lieber an Sauerstoff“, gab sie zurück. „Außerdem will ich mich in meiner Freizeit relaxen. Und ich lege überhaupt keinen Wert darauf, mir einen Sixpack zuzulegen und wie Arnolda Schwarzenegger auszusehen.“
„Du brauchst ja kein Krafttraining zu machen“, wandte er ein. „Ein Ausdauertraining, das wäre das Richtige für dich.“
„Wenn ich radeln oder laufen will, brauche ich nur vor die Tür zu treten. Das ist bei Weitem abwechslungsreicher und sinnvoller, als auf einem Trimmfahrrad zu strampeln oder auf einem Laufband zu keuchen, ohne von der Stelle zu kommen. Nee, das wäre
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