Liebe sucht sich einen Weg
Und wieso war ihm nie zuvor aufgefallen, was für ein zartes Gesicht sie hatte?
Den ganzen Abend ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Am folgenden Tag auch nicht. Wenn die Tür zum Trainingsraum aufging, blickte er unwillkürlich hin, als müsste sie jeden Augenblick hereinkommen. Verrückt eigentlich, wo er doch genau wusste, wie wenig sie von Fitnessstudios hielt!
Am Spätnachmittag schaute seine Freundin Friederike vorbei, um ihm guten Tag zu sagen. Sie arbeitete in einem Café um die Ecke. Wenn Julius ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass sie nicht mit Anna konkurrieren konnte. Friederike war attraktiv, aber zu stark geschminkt, ihre Haare waren zu schwarz gefärbt und ihre Fingernägel zu rot lackiert. Schon oft hatte er vergeblich versucht, sie davon abzubringen. „Du verstehst doch eh nichts von Make-up und Styling“, tat sie seine vorsichtige Kritik stets ab. „Mir und meinen Freundinnen gefällt’s. Und den Gästen offenbar auch.“
Er spendierte Friederike einen Fruchtsaft und hörte zu, was sie über die Kollegin erzählte, die sich häufig schrecklich ungeschickt anstellte. Vielmehr sah es so aus, als würde er zuhören, denn schon bald schweiften seine Gedanken ab. Er überlegte, ob Anna eigentlich ihre Augen schminkte. Bisher war es ihm nicht aufgefallen, aber er hatte noch nie darauf geachtet.
Friedrike stupste ihn an. „He! Jemand zu Hause?“
„Entschuldige. Was hast du gesagt?“
„Carina. Sie hat einem Gast Tee und Sandkuchen statt Cappuccino und Schwarzwälder Kirsch serviert – oder nein, warte mal, es war, glaube ich, Käsekuchen . Ja, er hatte Käsekuchen bestellt. Nicht Schwarzwälder. Egal. Jedenfalls hat Carina ein Riesendurcheinander angerichtet, als sie die falsche Bestellung im Computer stornieren wollte.“
„Ts“, machte Julius pflichtschuldigst.
„Der Gast war knallwütend, kann ich dir sagen.“
„Mm.“
„Was ist los? Warum bist du so einsilbig? Hast du schlechte Laune?“
„Keineswegs.“
Schlechte Laune, das wäre zu viel gesagt. Aber Julius hatte keine Lust mehr, über diese Carina zu reden, und er hoffte, Friederike würde bald gehen. Er war richtiggehend erleichtert, als sie den letzten Schluck Saft nahm und von dem hohen Barhocker herunterglitt. „Ich mach‘ mich vom Acker. Bis bald! Am Wochenende muss ich übrigens arbeiten.“ Sie küsste ihn flüchtig auf den Mund und Julius stellte sich aus heiterem Himmel die Frage, wie es wohl wäre, wenn Anna seinen Mund mit ihren Lippen berühren würde.
Friederike stöckelte auf hohen Absätzen davon und Julius wunderte sich nicht zum ersten Mal, dass sie in solchen Schuhen herumlaufen konnte, ohne umzuknicken.
Nachdenklich blickte er vor sich hin, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. In der letzten Zeit war es ihm immer klarer geworden: Die Beziehung mit Friederike war ein Fehler. Ganz am Anfang hatte sie ihn noch amüsiert, doch schnell begann sie, ihm auf die Nerven zu gehen.
Er konnte gar nicht genau sagen, wie er eigentlich in diese Sache hineingeraten war. Hauptsächlich wohl deswegen, weil sie so hartnäckig war. Sie trainierte regelmäßig bei ihm, und als sie noch nicht befreundet waren, hatte sie sich danach an die Bar gesetzt und ihn in Gespräche verwickelt. Ihre Absichten durchschaute er schnell. Er ließ sich auf sie ein, weil – ja, warum eigentlich? Weil es ihm schmeichelte, dass eine Frau, die von den meisten Männer angestarrt wurde, ihn auserwählt hatte? Weil er allein war? Oder weil er einfach nicht genug nachgedacht hatte?
***
Am Abend fasste Julius einen Entschluss: Er würde seine täglichen Spaziergänge mit Bero ausdehnen, um so die Chance zu erhöhen, Anna zu begegnen. Und wenn es so weit war, würde er sich weder von bellenden Hunden noch von Annas Distanziertheit davon abhalten lassen, das Gespräch mit ihr wieder aufzunehmen. Das Wochenende stand vor der Tür – er würde also reichlich Gelegenheit haben, im Gartengelände herumzustreifen.
Am Freitagabend klingelte es an seiner Haustür. Wer konnte das sein? Friederike arbeitete. Sein Freund war in Urlaub. Sicher ein Nachbar. Blitzartig durchfuhr ihn eine irrwitzige Hoffnung: Anna. Vielleicht dachte sie in der letzten Zeit ebenso häufig und intensiv an ihn wie er an sie. So etwas gab es, das hatte er schon öfter gehört. Eine Art Gedankenübertragung. „Ach, Unsinn“, fiel ihm ein, als er aufdrückte. Anna kannte ja seine Adresse genauso wenig wie er ihre.
Es war Friederike, die die Treppe
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