Liebe um Mitternacht
sehr selten.
Milly dagegen war klein, untersetzt und hatte ein so fröhliches Herz, dass diejenigen, die sie nicht so gut kannten, oft glaubten, sie sei ein wenig frivol. Doch nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Milly war genauso intelligent und gebildet wie Emma, aber sie hatte einen starken Sinn für Romantik.
Caroline war vor langer Zeit zu dem Entschluss gekommen, dass der Geschmack ihrer beiden Tanten in Sachen Kleidung zu ihrem Temperament passte. Emma bevorzugte dunkle, gedeckte Kleider mit nur wenig Rüschen und Verzierungen. Sie sah immer aus, als sei sie ständig in Trauer, ein Stil, der zur Zeit sehr in Mode war.
Aber es gab in letzter Zeit auch noch eine andere, genauso beliebte Moderichtung. Sie bestand aus einem wahren Durcheinander von Farben, Mustern und Entwürfen, und das passte ausgezeichnet zu Milly. Das Kleid, das sie an diesem Nachmittag trug, ging genau in diese Richtung. Es war eine Mischung aus roten und goldenen Streifen und schwarz-weißen Karos. Rüschen fielen über die gefältelten Arme und den Halsausschnitt. Ein gerüschter roter Unterrock lugte unter dem Saum des Kleides hervor.
Emma goss Caroline eine Tasse Tee ein. »Die ganze Sache ist höchst beunruhigend. Glaubst du, dass der Mörder uns vielleicht gestern Abend aus dem Schatten heraus beobachtet hat, als wir Delmonts Haus verlassen haben? Vielleicht hat er schon da auf eine günstige Gelegenheit gewartet.«
»Was für ein schrecklicher Gedanke.« Milly schien darüber eher erregt als verängstigt. »Ich muss zugeben, dass die Seance gestern Abend ziemlich aufregend war. Mir hat ganz besonders die Sache mit der geisterhaften Hand gefallen, die gleich neben dem Tisch erschien. Sehr effektiv. Ich habe schon befürchtet, dass Mr. McDaniel in Ohnmacht fallen würde, als die Finger nach seinem Ärmel griffen.«
»Elizabeth Delmont war natürlich eine hundertprozentige Betrügerin«, meinte Caroline nachdenklich. »Aber ich bewundere sie trotzdem dafür, dass sie eine so interessante Arbeit gemacht hat. Es gibt so wenig profitable Berufe für eine Lady.«
»Sehr wahr«, stimmte Emma ihr zu. »Hast du heute Nachmittag sonst noch etwas erfahren?«
»Ich habe ein junges Hausmädchen entdeckt, das ganz allein am Rande der Menschenmenge stand und das Durcheinander um Mrs. Delmonts Haus beobachtete«, erzählte Caroline. »Ich habe den Kutscher gebeten, anzuhalten, damit ich mit ihr reden konnte. Ich dachte, mit ihr zu reden wäre ziemlich sicher, weil sie keine Ahnung hatte, wer ich war. Sie hat mir bereitwillig von all den Gerüchten berichtet, die in der Menschenmenge erzählt wurden.«
»Was hat sie denn gesagt?«, wollte Milly wissen.
»Sie hat mir erzählt, dass alle davon sprachen, dass die Möbel im Seancezimmer durch übernatürliche Kräfte umgeworfen worden waren.«
Emma seufzte. »Ich nehme an, diese Art von Klatsch war unvermeidlich, wenn man bedenkt, dass es ein Medium war, das umgebracht wurde.«
»Jawohl.« Caroline griff nach ihrer Teetasse. »Sie hat auch gesagt, dass viel von einer zerbrochenen Taschenuhr gesprochen wurde.«
Milly sah neugierig auf. »Was war denn an der Taschenuhr so Besonderes?«
»Offensichtlich hat man sie neben der Leiche gefunden. Die Polizei glaubt, dass sie während des Mordes zerbrochen wurde.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und stellte die Tasse dann wieder ab. »Die Zeiger der Uhr sind genau um Mitternacht stehen geblieben.«
Ein Schauer rann durch Millys Körper. »Wie melodramatisch.«
Emma presste die Lippen zusammen. »Zweifellos wird die Uhr in den Zeitungsartikeln über den Mord eine große Rolle spielen.«
»Ich denke, es ist möglich, dass ein ungehaltener Teilnehmer einer Seance sich an Mrs. Delmont rächen wollte«, meinte Milly. »Eine Verbindung mit der anderen Seite kann für manche Menschen, die diese Art von Unsinn sehr ernst nehmen, mit sehr viel Gefühl verbunden sein.«
»Schon möglich«, meinte Caroline nachdenklich, »aber ich habe über die ganze Sache sehr gründlich nachgedacht, und mir ist noch eine andere Möglichkeit eingefallen.«
»Was für eine?«, fragte Emma.
»Der Gentleman, der heute Morgen hier war, ist davon überzeugt, dass der Mörder von Mrs. Delmont sie umgebracht hat, um an ein gewisses Tagebuch zu kommen. Aber wie ihr beide ja wisst, habe ich in letzter Zeit sehr viel Zeit im Hauptquartier der Gesellschaft für übersinnliche Forschungen verbracht, und dort ist es kein Geheimnis, dass Mrs. Delmont eine sehr
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