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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Dachziegel kommen sollten. Vater band mit Draht alles schön fest und beschwerte es mit Ziegeln, damit der Wind es nicht wegwehte. Er wehte es nicht weg. Auch der Orkan nicht. Die Konstruktion überdauerte den gesamten Winter. Selbst zu Ostern wohnten wir noch unter dieser dicken, starken Plane.
    Geschlagen trat die Familie ihren Rückzug nach Nyék an. Unsere Besuche am Belgrad-Kai endeten meist so. Mutter beruhigte sich ein wenig und sagte zu Vater, als wir schon in der Straßenbahn der Linie 49 saßen, wir hätten das Angebot von Onkel Lajos und Tante Judit, Gerda ab September bei ihnen am Belgrad-Kai wohnen zu lassen, vielleicht doch annehmen müssen. Wenn sie an der Universität angenommen werden sollte, wäre das kleine Zimmer in der Wohnung von Onkel Lajos und Tante Judit ideal für sie. Die Wohnung liege nur wenige Minuten von der medizinischen Fakultät entfernt, und so würde Gerda nicht jeden Tag nach Nyék hinausfahren müssen.
    Vater wusste das natürlich auch. Wir Kinder ebenfalls. Seit Jahren sprach die Familie davon, wie schön es doch wäre, wenn Onkel Lajos und Tante Judit uns diese Möglichkeit anböten.
    „Nun haben sie es uns angeboten“, sagte Mutter.
    „Das haben sie“, erwiderte Vater grimmig. „Woraufhin Jutka und du euch unbedingt habt zerstreiten müssen.“
    Vater verstand erst jetzt, hier in der Straßenbahn, was im Zimmer geschehen war, während wir auf dem Balkon gesessen hatten: Tante Judit hatte uns das langersehnte Angebot gemacht. Auf den ersten Blick war Vaters Vorwurf begründet, weil Mutter das Angebot durch ihre Flucht wirklich etwas überstürzt in den Wind geschlagen hatte, während er sich ja auf etwas anderes hatte konzentrieren müssen: Darauf, sich auf Onkel Lajos’ Provokationen vorzubereiten, um im gegebenen Moment schlagfertig antworten zu können. Er wusste, dass der Zustand unseres Hauses nicht unkommentiert bleiben würde, und das blieb er ja auch nicht. Kein Wunder also, dass er von Tante Judits Angebot nichts mitbekommen hatte. Ihm wurde klar, dass er einen Fehler begangen hatte, und das machte ihn nun gereizt. Sein Vorwurf war jedoch ungerecht, denn er hätte das Angebot aus falschem Stolz ebenso wenig angenommen wie Mutter. Nun aber, als wir bereits in der Straßenbahn saßen, konnte er gar nicht mehr anders, als Mutter die Schuld in die Schuhe zu schieben. Es hätte nicht geschadet, wenn die Frauen auch ihn darüber in Kenntnis gesetzt hätten, worum es eigentlich ging, denn nun habe er sich wie ein Vollidiot mit Lajos über eine ganz andere Angelegenheit zerstritten. Mutter fragte nicht nach, was diese ganz andere Angelegenheit war, da sie ahnte, dass es sich um unsere Dachplane handelte, und sie wollte Vater nicht in die peinliche Lage bringen, sich wegen dieser wieder rechtfertigen zu müssen.
    All dies spielte sich in der Straßenbahn der Linie 49 auf der Fahrt zum Dezső-Kosztolányi-Platz ab. Im Zug nach Nyék setzten wir uns nicht nebeneinander. Seitdem auch ich nicht mehr bei den Eltern auf dem Schoß sitzen konnte, waren wir ohnehin zu viele für einen Viererplatz.
    Mutter und Vater unterhielten sich während der ganzen Zeit leise miteinander. Wir verstanden kein Wort.
    „Sie haben den Pulli angezogen“, flüsterte uns Erika zu.
    Mutter und Vater hatten (zumindest in unserer Vorstellung) einen gemeinsamen, großen, verwaschenen Strickpullover, den sie ab und an zusammen überzogen, und von dem Moment an existierten wir drei für sie nicht mehr. Gerda legte die Hand auf die Kiste des kleinen Katers.
    „Erschießt mich bitte, wenn ich jemals wieder auch nur einen Fuß in Onkel Lajos’ Wohnung setzen sollte“, sagte sie.
    „Dem schließe ich mich an“, sagte Erika, und Gerda wandte sich in strengem Ton an mich.
    „Tamás?“
    „Geht in Ordnung“, erwiderte ich trotzig. „Ihr werdet erschossen.“
    Meine Schwestern zuckten die Schultern. Wir waren über Kreuz. Sie verdächtigten mich, dass ich sie bei den Eltern ständig verpetzte, und das vergiftete unsere Beziehung. Das tat ich damals zwar nicht mehr, aber sie konnten mir nicht verzeihen, wie oft ich sie in den ersten dreizehn Jahren meines Lebens verraten hatte. Vor allem, als ich sie Vater im Herbst ausgeliefert hatte, indem ich ihm erzählt hatte, dass sie sich nachts ans Donauufer setzten, um zu rauchen, genauer gesagt, ans sogenannte
Donauufer
. An unser eigenes Donauufer, denn der Garten in Nyék hatte – neben seinen vielen Nachteilen – eine exklusive, mondäne Eigenschaft,

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