Liebe Unbekannte (German Edition)
sogar fast sicher. Ganz sicher kann man sich nie sein, da sich nachträglich über die meisten Jahre etwas Erstaunliches herausstellt. Zum Beispiel dass es in Wirklichkeit gar nicht das Jahr war, für das wir es zuvor gehalten hatten, sondern ein ganz anderes, und auch über dieses andere stellt sich oft etwas heraus, was wir nicht im Traum von ihm angenommen hätten. Ganz zu schweigen von einem dritten Jahr, das gar nicht ein einziges Jahr war, sondern eigentlich vier oder fünf Jahre zusammen, während eine andere Periode, die wir lange Zeit ahnungslos für vier oder fünf Jahre gehalten hatten, nicht mehr als ein ereignis reicher Monat gewesen war. Das ist auch überhaupt nicht verwunderlich, schließlich wurde sogar Jesus Jahre nach Christus geboren.
Dass es der Winter 1975–76 war, ist dennoch mehr als wahrscheinlich, da ich damals meine Zeit selbst genauer registrierte als heute. Und die Plane, durch die unser Haus wie ein Einweckglas aussah, gab es auch, das ist ganz sicher. Insgeheim machte sich Vater Vorwürfe deswegen, aber auch er hatte sich kein eindeutiges Versäumnis zuschulden kommen lassen. Eigentlich war unsere Familie nur in Zugzwang geraten. Im Sommer 1975 war der allerletzte Zeitpunkt gekommen, um den Mädchen ein eigenes Zimmer zur Verfügung zu stellen, da Gerda in diesem Schuljahr das Abitur machen sollte und Erika im nächsten. Ihnen stand ein eigenes Zimmer zu. Von mir ganz zu schweigen, da ich schon tief in der Pubertät steckte. Vater hatte also guten Grund, wenn auch schon etwas spät im Jahr (Mutter und er hatten noch auf einen Sparkassen-Kredit gehofft), im September das Dach abzureißen. Er wollte das Haus um ein Stockwerk erhöhen, das – bei Bedarf – irgendwann in einigen Jahren zu einem Wohnbereich mit separatem Eingang hätte ausgebaut werden können, wenn Erika und Gerda oder auch ich auf die Idee kämen,
uns einen Mann zu suchen
.
Wenn sie auf die Idee kommen, dachte ich, verbesserte Vater jedoch nicht.
„Wenn sie auf die Idee kommen, meine ich“, verbesserte er sich selbst. „Und du dir eine Frau.“
Sieben Jahre zuvor hatte Onkel Lajos die Werkstatt in der Mária Straße aufgelöst. Tante Judit und er hatten das Mietrecht an ihrer kleinen staatlichen Wohnung verkauft, waren in die Wohnung am Belgrad-Kai eingezogen, in der zuvor wir gewohnt hatten, und wir hatten ins Exil gehen müssen. Onkel Lajos und Tante Judit zahlten uns aus, von der Summe konnten wir uns ein kleineres Haus in Nyék kaufen, das zwar nicht perfekt war, dessen Fundament jedoch sicher erschien. Das war für die Familie die vernünftigste Entscheidung. Denn Großvaters Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg hatte sich wieder verschlimmert, er bekam Krebs und alle waren sich darin einig, dass Sterben nichts für Kinderaugen sei. Tante Judit und Onkel Lajos standen den anderthalb Jahre währenden aussichtslosen Kampf gegen den Tod, den man auch Pflege nennen konnte, zu zweit durch, wobei in den letzten Monaten ständig einer von beiden am Krankenbett saß. Nur zum Sterben ließen sie Großvater ins Krankenhaus.
Und wir richteten uns in Nyék ein. Vater und Mutter brachten das Haus mit intensiver Arbeit innerhalb einiger Wochen soweit in Ordnung, und wir verbrachten die folgenden sieben Jahre darin, aber dass das Dach nicht einstürzte, kam eigentlich einem Wunder gleich. Dieses Dach war es, das wir in dem Herbst abrissen.
Die Arbeit begann schwungvoll. Ich half auch mit, groß genug war ich schon. Der vom Dach entfernte Wellenschiefer war bereits am ersten Oktober an die Wand gelehnt, etwas weiter weg bildeten wir aus den abgebauten morschen Dachbalken einen zweiten Haufen. Das, was vom Haus übrig geblieben war, wurde noch am selben Tag mit einer provisorischen Plane versehen, weil der Wetterbericht für den nächsten Tag leichten Regen vorhergesagt hatte. Der Regen kam erst drei Tage später, am Morgen, dann regnete es jedoch tagelang, und später konnte die Arbeit wegen des Frostes nicht fortgesetzt werden. Wenn Vater etwas versäumte, dann nur in diesem Punkt: Trotz des Frostes gab es wahrscheinlich einige Tage, die man hätte besser nutzen können. Leider erhielt er jedoch gerade zu diesem Zeitpunkt gewisse Informationen aus einer scheinbar zuverlässigen Quelle, wegen der er sich dafür entschied abzuwarten und nicht weiterzubauen. Ende Oktober wurde die Plane noch einmal entfernt, um das dachlose Haus beheizbar zu machen, indem wir die wärmedämmenden Glaswollmatten auslegten, die unter die
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