Liebe Unbekannte (German Edition)
für Onkel Lajos. Damals verwendete ich Begriffe wie
Große Geschichte
noch nicht und versuchte deshalb mit vielen Worten zu beschreiben, was so faszinierend an der Überlegenheit war, mit der Onkel Lajos die gesamte Menschheit behandelte. Ich spürte ganz entschieden, dass es in Onkel Lajos’ Sätzen Punkte geben musste, von denen ausgehend man den Weg in die
Große Welt
fand. Diese Punkte waren da, es gab sie. Man musste sie nur finden. Und die Idee der
Großen Welt
, des Mondänen, war eine, in der meine Schwestern und ich uns einig waren. Beide wollten mondäne Frauen sein, ebenso wie irgendwann vor unserer Geburt auch Mutter und Vater ein Leben in der
Großen Welt
vor Augen gehabt hatten. Aber wir wussten alle fünf, dass es das Mondäne gar nicht mehr gab. Es war aus der Welt verschwunden. Die
Große Welt
wurde bei uns von einer alten Kaffeedose aus Blech repräsentiert, auf der ein Schattenbild im Stil des mittleren 18. Jahrhunderts zu sehen war, wie es sich die Kaffeedosenentwerfer des ausgehenden 19. Jahrhunderts erträumt hatten: das Schattenbild der Liebe. Eine schwarze Frau und ein schwarzer Mann standen sich an einem Geländer vor rotem Hintergrund gegenüber. Die Frau trug einen Reifrock, der Mann hatte einen Pferdeschwanz. Er stützte sich in galanter Haltung aufs Geländer, ganz so, als habe er diese schwere Aufgabe für die Dame übernommen. Im Laufe der ersten zehn Jahre meines Lebens verblasste das Bild des wunderschönen Paares vom Anfassen der Dose, aber ganz verschwand es nicht, da irgendwann der Deckel der Dose abging und nach einer kurzen Übergangszeit die Dose selbst weg war. Von da an bewahrten wir den Kaffee in der Verpackung auf.
„Ich will den Namen
Onkel Lajos
nicht noch einmal hören“, fiel mir Gerda ins Wort.
„Lass ihn endlich“, sagte Erika.
„Ich lasse ihn doch. Ich schaue ihn nicht einmal an.“
Gerda hatte mich wirklich während der ganzen Fahrt nicht angesehen. Erika blinzelte mir kaum merklich zu, dass ich mich nicht um Gerda kümmern sollte.
„Und du sollst ihm nicht zuzwinkern, wenn ich dich darum bitten darf“, fuhr Gerda Erika an.
„Du hast gar nicht hergeschaut.“
„Du, Mutter“, sagte Gerda, „was wäre, wenn Tomi in das Zimmer ziehen würde? Aus ihm könnten sie kein Dienstmädchen machen. Er ist ein Junge.“
Gerda betonte das Wort
Dienstmädchen
so, dass daraus nicht nur die Missbilligung gegenüber Onkel Lajos und Tante Judit herauszuhören war, sondern ihre endlose Überlegenheit über Mutter und ihre untergegangene Welt. Dienstmädchen! Mein lieber Gott, wo gab es denn noch Dienstmädchen. Gerda verfocht gegenüber der Familie den Fortschritt, wobei Erika und ich bereits damals ahnten, dass sie die Kaffeedose in ihrer Schreibtischschublade versteckt hatte, damit Mutter sie nicht meuchlings wegwarf, denn Mutter war ebenfalls eine moderne Frau, die gegenüber der Familie den Fortschritt verfocht und ebenso wenig mit Dienstmädchen zu tun hatte wie Gerda.
„Stimmt. Und dann könnte er ein Gymnasium in Budapest besuchen“, fügte Erika hinzu.
Mein Herz machte einen großen Sprung. Ich wäre liebend gerne zu Onkel Lajos und Tante Judit gezogen.
„Bloß das nicht“, sagte ich zum Schein.
Meine Antwort wurde akzeptiert. Es wurde nicht weiter darüber gesprochen.
Trotz der mehr oder weniger dramatischen Konflikte und Streitereien gab es stets einen sicheren Punkt, auf den die Familie zurückgreifen konnte: das Grab unserer Großeltern in Farkasrét. Beide Zweige der Familie gingen regelmäßig auf den Friedhof, um
Das Grab
zu pflegen. So wütend Vater und Onkel Lajos auch aufeinander sein mochten,
Das Grab
versöhnte sie früher oder später immer. Einmal hatten sie sich so zerstritten, dass sie monatelang nicht miteinander sprachen. Kurz vor Weihnachten schickte Onkel Lajos dann eine Postkarte mit folgender kühlen Nachricht nach Nyék:
Mein lieber Bruder, ihr findet eure Geschenke am 24. Dezember des laufenden Jahres ab 11 Uhr auf Dem Grab. Dein Bruder
. Vater fuhr daraufhin auf den Friedhof in Farkasrét und fand unsere Geschenke auf
Dem Grab
. Zusammen mit dem Weihnachtsbejgli.
Als wir zu Hause ankamen, erwarteten uns in der Küche zwei Männer: Onkel Jónás und Pali Wampe. Festlich gekleidet saßen sie still auf den Hockern und becherten. Sie kamen, um die Frauen zu begießen. Sie waren Vaters Schüler. Zumindest nannten Gerda, Erika und ich sie so. Es gab noch einen dritten Schüler, den Kleinen, der auch mitgekommen wäre, wenn Onkel
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