Liebe Unbekannte (German Edition)
nämlich, dass an ihn ein ehemaliges Donauufer grenzte (wenn auch die Donau seit vielen Tausend Jahren nicht mehr hier floss). Vater schimpfte nicht mit den Mädchen, weil sie schon groß waren, und mit mir auch nicht, weil er mich schon seit Langem aufgegeben hatte, obgleich er sich das nie eingestand. Ich bemühte mich zwar, mich zu entwickeln, an meinem Charakter zu arbeiten, aber das konnten die Mädchen damals noch nicht wissen. Sie nahmen sich vor mir in Acht. In meiner Gegenwart sprachen sie über nichts Privates. Ich hätte gerne irgendeine sehr große Tat vollbracht, um meine Schwestern für mich zu gewinnen. Stattdessen war ich einfach nur trotzig.
Gerda streichelte den kleinen Kater.
„Horribile Dictu“, sagte sie mit einem Seufzer und fügte sachlich hinzu: „Das ist der beste Katername, den ich je gehört habe. Leider. Den hat sich auch Onkel Lajos ausgedacht.“
„Und was ist so schlimm daran?“, fragte Erika mutig.
„Meine liebe kleine Katze, hörst du Tante Erika?“, sagte Gerda zu dem Kater, während sie ihn weiterstreichelte. „Tante Erika weiß schon wieder nicht, was sie da erzählt. Meine liebe kleine Katze. Horribile Dictu. Du weißt nicht einmal, was dein Name bedeutet.“
Erika und ich machten Gerda nicht die Freude zu fragen, was der Name des Katers bedeutete. Horribile Dictu. Ich beschloss, gleich nachdem wir zu Hause angekommen sein würden, heimlich im Fremdwörterbuch nachzuschlagen. Aber ich verschob es jahrelang immer wieder.
„Und, hast du ihn wenigstens gefragt, was du wolltest?“, fragte Gerda herablassend, weil sie wusste, dass ich Onkel Lajos an diesem Tag hatte fragen wollen, was die unheimlichen roten Lichter waren, die an manchen Abenden von der Spitze des Französischen Berges die Wolken anleuchteten. Die Spitze des Französischen Berges war von einem Wald bedeckt, in dessen Mitte sich das Zentrale Forschungsinstitut für Physik befand, und ich hoffte insgeheim, dass die roten Lichter mit dem zu erwartenden Atomkrieg in Verbindung standen, vor dem ich natürlich unsägliche Angst hatte. Ich hatte Vater darüber vor Kurzem befragt, und er hatte meine Annahme bestätigt, sie jedoch auch ein wenig differenziert, indem er sagte, dass im Forschungsinstitut für Physik keine Atombombe hergestellt werden würde, da der Reaktor dafür zu klein sei, jedoch das, was sich dort abspiele, durchaus mit dem Dritten Weltkrieg in Verbindung stehen könne. Die Antwort war nach meinem Geschmack, dennoch wollte ich, dass Onkel Lajos, der stets gut informiert war, meine restlichen Zweifel in Hinsicht auf den Atomkrieg aus der Welt schaffte.
„Ach was“, sagte ich zu Gerda. „Wir haben über ganz andere Themen gesprochen. Stell dir vor …“
„Stelle ich mir nicht“, sagte sie schroff.
Aber das war etwas Wichtiges. Ich wusste, dass Frauen sich für wichtigere Dinge nicht interessierten, aber ich konnte dem Versuch nicht widerstehen, mir bei ihnen Gehör verschaffen zu wollen. Um mein Ziel zu erreichen, schlug ich einen kritischen Ton an.
„Stellt euch vor“, begann ich nach einem kurzen Moment der Stille, „er versuchte, uns einzureden, man habe die Donau ausgetrocknet. Dass die Donau, irgendwann in den fünfziger Jahren … irgendwie …“
„Ausgetrocknet wurde“, half mir Gerda spöttisch, weil ich wieder einmal stockte. „Oder?“
„Nein! Sie wurde nicht ausgetrocknet, sondern …“
„Du hast es doch gerade gesagt.“
„Ja, aber das ist nicht das Entscheidende. Onkel Lajos hat gesagt, dass man die Donau in den fünfziger Jahren beinah umgebettet hätte. Und deshalb wäre jetzt beinah kein Wasser in der Donau.“
„Das ist genial“, sagte Gerda sarkastisch. „Und darüber habt ihr euch gestritten?“
Gerda hätte eigentlich schon längst auf ihren Platz auf dem Balkon bestanden. Sie hatte nur zwei Probleme mit Männern. Das eine war, dass sie selbst keiner war, und das andere, dass sie gewisse Männerthemen einfach nicht ertragen konnte, so sehr sie sich auch bemühte.
„Über wen machst du dich lustig?“, fragte Erika Gerda. Sie verstanden sich auch nicht sonderlich gut.
„Über die Familie im Allgemeinen“, sagte Gerda unwirsch, aber schon weniger spöttisch, weil ihr Gehirn inzwischen nicht mehr im Leerlauf war. Dann wandte sie sich an mich. „Du hast wohl etwas ganz schön missverstanden. Er wollte doch nur Vater aufziehen, oder?“
„Glaube ich nicht“, log ich. „Weshalb hätte er ihn denn aufziehen wollen?“
Ich hielt ein Plädoyer
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