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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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9.
ENDYMIONS SCHLAF
    Patai war nicht im Geringsten anzusehen, dass seine Frau im Sterben lag. Ebenso wie es ihm zuvor nie anzusehen gewesen war, ob es ihn interessierte, was die Studenten der Hochschule über sein Privatleben wussten. Dabei wussten die Studenten der Hochschule eine ganze Menge über Patais Privatleben, mehr als über das aller anderen an der Hochschule Lehrenden zusammen. Klárika gab ihnen diese Informationen persönlich, detailliert, tagesaktuell, und das seit Menschengedenken. Denn Patais Frau, Klárika, war seit Menschengedenken die Leiterin der Fachbereichsverwaltung. Sie soff wie ein Bürstenbinder, rauchte wie ein Schlot und hasste Patai wie die Pest. Das waren ihre drei Leidenschaften. Fortwährend schimpfte sie vor den Studenten über Patai. Bereits die Erstsemesterstudentinnen, die zu ihr kamen, um sich zu immatrikulieren, warnte sie, dass ihr Mann jede flachlege, die ihm über den Weg laufe, und sie sich vor ihm in Acht nehmen sollten, da er die meisten Frauen an der Hochschule aufgabele. Je älter Patai wurde, desto l ächerlicher wirkte diese Warnung und desto sicherer war, dass Klárika sich im Grunde mit den Eroberungen ihres Mannes brüstete, diese den Sinn ihres Lebens bildeten, und es für sie einem Todesurteil gleichgekommen wäre, hätten die Frauen eines Tages nichts mehr von Patai wissen wollen. Aber jetzt, da sie tatsächlich im Sterben lag, war diese Tatsache das Einzige, das man wusste, Klárika, ja, Klárika von der Fachbereichverwaltung lag im Sterben – sonst nichts, denn Patai war rein gar nichts anzusehen. Nur das übliche Grinsen. Vielleicht war es sogar noch ein bisschen breiter als sonst. Wem wäre da nicht der Gedanke gekommen, er grinse vor Freude?
    Als er sich an das Pult setzte, machte er in der ersten Minute nichts als zu grinsen, wobei er den Blick über die gesamte Hörerschaft schweifen ließ. Vielleicht amüsierte es ihn, dass das Lehrerpult in diesem Fall eine ziemlich primitive Konstruktion war: Es bestand aus einem gewöhnlichen Klappstuhl, zwei großen Lautsprechern, über die ein zwei Zoll breites Fichtenbrett gelegt war. Der Vorlesungssaal war ein großes Militärspeisezelt. Patai grinste zufrieden: Diese spartanischen Umstände hielt er offenbar für ideal, um seine erste Vorlesung im Herbstsemester zu halten.
    Seine Zuhörerschaft, bestehend aus Erstsemesterstudenten der Budapester Zweigstelle (ja, so etwas gab es) der Kecskeméter Pädagogischen Hochschule, war keineswegs davon begeistert, in dieser Woche irgendeine Vorlesung besuchen zu müssen. In der ersten Septemberwoche fand traditionell ein Lager zum Kennenlernen statt, in dem am Vormittag Obst geerntet wurde, am Nachmittag bekannte Fachkompetenzen Vorträge hielten und am Abend getanzt und getrunken wurde. Das Semester begann im Grunde stets erst eine Woche später im Hochschulgebäude in der Innenstadt. Bis dahin gab es keine richtigen Lehrveranstaltungen. Dieser Tradition setzte Patai ein Ende, indem er am Montag, dem Tag nach der Ankunft im Lager, für halb elf im Speisezelt eine Vorlesung ankündigte, an der jeder obligatorisch teilzunehmen hatte. So würden die Studenten von morgens um sieben Uhr bis zur Vorlesung noch genug Zeit zum Pfirsichpflücken haben, und er würde es am Nachmittag noch schaffen, Klárika im Kútvölgyi Krankenhaus zu besuchen. Wir begehrten still auf, gleichzeitig waren wir aber auch wirklich neugierig auf den berühmt-berüchtigten Patai. Unsere Kommilitonen aus den höheren Semestern hatten uns an diesem Morgen beim Pfirsichpflücken gründlich auf ihn vorbereitet.
    Nach ihrer Ansicht befand sich Patai in innerer Emigration. Das sah man ihm allerdings nicht an.
    Im Zelt herrschte eine Gluthitze, dabei war die Plane an den Seiten hochgebunden, damit die Luft ein wenig zirkulieren konnte. Die Luft zirkulierte auch, wie sie sollte, und brachte Sand, der schön zwischen den Zähnen knirschte.
    Patai sah sich seine Studenten an, blies den Sand vom Mikrofon, damit sein Räuspern in jeder Ecke zu hören war.
    „Hochgeschätzte Hörer“, sagte er in spöttischem Ton. „Jede menschliche Gesellschaft ist das komplizierte Geflecht gegenseitiger Lügen. Auch unsere heiß geliebte sozialistische Gesellschaft bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Da haben wir zum Beispiel Sie und mich. Sie sind zur ersten Hochschulvorlesung Ihres Lebens gekommen, um am Ende ein Diplom zu erhalten, in welcher Wissenschaft, ist Ihnen im Grunde völlig egal. Es hat sich so

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