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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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die Vernunft herrschte. Ich jedoch bin bereits zu einem glücklicheren Zeitpunkt geboren worden. Die Vernunft hat ihre letzte Vorstellung irgendwann in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben, daher kann ich mir heute ohne Weiteres erlauben, von Dämonen zu sprechen.
    Der Dämon der Donau war es also, der nun gewohnheitsgemäß eintraf. Er beeilte sich, um sein Zuflussgebiet auch in dieser Nacht schön zu überfluten. Um seinen Leuten zuzuhören, ihnen zwar nicht helfen zu können, aber sie ein bisschen zu lieben. Um sich mit ihnen zu vereinigen, sie zu rügen, zu trösten. Er machte seinen nächtlichen Kontrollgang. Ging seiner Arbeit nach, wie ein Nachtwächter.
    Es war ein gespenstischer Moment.
    Die Nachtigallen begannen zu singen – dabei hatten sie zuvor schon gesungen. Am unteren Rand des Himmels erschien der Mond – dabei war er zuvor schon da gewesen. Ein Wind kam auf – und es war vollkommen windstill. Es geschah gar nichts – und doch so viel. Gerda und Vater achteten trotzdem nicht darauf, weil sie mit Mutters nervlicher Verfassung beschäftigt waren. Und natürlich auch, weil sie schon daran gewöhnt waren, schließlich war die nächtliche Donau schon mehrere tausend Mal über sie hinweggeströmt. Aber Szalai, das Musterbeispiel für eine von Begierde erfüllte mittel- und osteuropäische Seele, erwachte im Pförtnerhäuschen von dem spukhaften Ereignis. Vielleicht schien ihm aber auch nur der Mond ins Gesicht. Oder er war von Gerdas nervösem Klingeln erwacht. Oder ein anderer rationaler Grund hatte ihn geweckt. Auf jeden Fall kam er hervorgekrochen.
    „Was wollen Sie hier?“, fragte er, was deutlich zeigte, dass er in seinem Leben irgendwann eine Position bekleidet haben musste, die es erforderte, Leute in arrogantem Ton anzusprechen, vielleicht war er einmal Unteroffizier gewesen. „Wen suchen Sie?“
    Doch dann erkannte er Vater. Er beugte das Knie vor ihm, bekreuzigte sich und ging. Es war die richtige Richtung, die, in die auch die Alte zuvor verschwunden war.
    Die Kniebeuge war nichts als die Zufallsgeste eines Narren, Vater freute sich dennoch, dass Gerda sie gesehen hatte. Schließlich beugte man ja nicht vor jedem das Knie, und Vater hätte sich in dem Moment auch schon damit begnügt, wenn er Gerda nur leid getan hätte. Er glaubte nämlich, in ihren Augen nun endgültig jeden Respekt verloren zu haben.
    „Der hat dich ja für Jesus gehalten“, sagte Gerda anerkennend.
    „Ach was“, sagte Vater, „dann hätte er wohl niesen müssen.“
    „Das stimmt“, erwiderte sie.
    Sie lachten. Dabei hatte Szalai Vater wirklich für Jesus gehalten, und das nicht zum ersten Mal. Und er war auch nicht der Erste. Vaters Erscheinung hatte tatsächlich etwas von Jesus. In den Wochen der Revolution liefen in Budapest einige Männer umher, deren Erscheinungen an Jesus erinnerten, denn damals rasierten sich viele nicht, aber mit seinen sanften, slawischen Zügen war Vater der jesushafteste unter allen, ganz abgesehen von den Maschinenpistolen, die sich die anderen jesushaften Erscheinungen meist um den Hals gehängt hatten. Um Vaters Hals hing in dieser Zeit ein geliehenes Stethoskop, was das Jesushafte nur noch steigerte. Damals verliebten sich Hunderte von Frauen und Männer in ihn, beinah jeder, der ihn sah, und wie gesagt, ihn sahen viele. Sie nahmen die Erinnerung an ihn in alle Ecken des Planeten mit, nach Österreich, Schweden, Frankreich, Amerika, ja, sogar nach Neuseeland. Darüber wusste Vater jedoch nur wenig Genaues und auch sein Realitätsgefühl riet ihm, darüber zu schweigen. Doch waren Gerda und Erika auch schon von selbst darauf gekommen, dass Vater eine jesushafte Erscheinung war.
    „Hör zu, Papa“, sagte Gerda, ergriffen von einer Welle der Begeisterung. „Nimm diese Stelle doch an. Versuch es wenigstens. Wir haben nichts zu verlieren. Morgen Vormittag geht Onkel Olbach in die Bibliothek, aber übermorgen ist er den ganzen Tag zu Hause. Du müsstest nur bei ihm vorbeigehen, um die Einzelheiten zu besprechen. Damit er sieht, dass du es auch willst. Er war wirklich nett und hat gesagt, es sei einfach eine Schande, dass so ein begabter Mensch gezwungen sei, als Pförtner zu arbeiten.“
    „Um mir dann eine Pförtnerstelle anzubieten“, sagte Vater spöttisch. Daraufhin konnte Gerda nichts erwidern, denn in dieser Hinsicht widersprach Onkel Olbachs Angebot in der Tat der Logik.
    „Ja, aber das ist doch etwas anderes“, sagte sie unsicher.
    „Nun gut, mir würde kein

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