Liebe Unbekannte (German Edition)
ergeben. Deshalb sitzen Sie jetzt hier herum und tun so, als würden Sie mir angestrengt zuhören, mir, der Sie mit ‚hochgeschätzte Hörer’ angesprochen hat, dabei schätze ich Sie nicht nur nicht hoch, auch nicht ein wenig, sondern schlicht und einfach gar nicht.“
An dieser Stelle hielt Patai eine kurze Pause für das Protestgemurmel, das ausblieb. Studenten im zweiten Semester hätten schon protestiert, aber hier saßen lauter unbedarfte Erstsemester, die noch nicht wussten, dass sich Patais spöttische Anspielung auf die Zweitrangigkeit der Pädagogischen Hochschule bezog. Denn die meisten der Studenten waren enttäuscht. Ihnen hatten ein oder zwei Punkte gefehlt, um an der Universität ihrer Wahl angenommen zu werden, und nun waren sie an der Hochschule eingeschrieben, die sie auf dem Aufnahmeformular an zweiter Stelle angegeben hatten. Mit ihrem Diplom würden sie Kinder im schlimmsten Alter, zwischen zehn und vierzehn Jahren, unterrichten können, was jedoch noch gar nichts war im Vergleich zu den geringschätzigen Blicken, die sie für den Rest ihres Lebens von jenen ernten würden, die ein oder zwei Punkte mehr oder bessere Beziehungen hatten als sie, und daher an der Geistes- oder Naturwissenschaftlichen Fakultät einer Universität angenommen worden waren, wo sie ein Universitätsdiplom erhalten und damit an Gymnasien und Universitäten würden unterrichten können. Die Lehrkräfte und Studenten von Pädagogischen Hochschulen schützten sich gegen ihre Komplexe, indem sie ein starkes Selbstbewusstsein entwickelten und behaupteten, echtes Wissen könne man ausschließlich an einer Pädagogischen Hochschule erwerben, im Gegensatz zum Beispiel zur Geisteswissenschaftlichen Fakultät einer Universität, die nur selbstgefällige, ungebildete Kulturbanausen hervorbringe. Aber am ersten Vormittag des ersten Jahres, am Tag nach dem Kennenlernabend im Pfirsicherntelager, bildete sich dieses Selbstbewusstsein noch nicht aus, da bildete sich noch gar nichts aus, außer vielleicht die Knospen so mancher Liebe.
„Wie gesagt, meine Wertschätzung für Sie erreicht nicht einmal die Größe eines Staubkorns, ich möchte jedoch hinzufügen, dass sich dies noch ändern kann. Sagen wir so, unser Verhältnis könnte sich im Laufe der zusammen verbrachten Monate emotional aufladen. Ich kann zum Beispiel hervorragend hassen, verachten und habe schnell mal jemanden auf dem Kieker. Ich bin unschlagbar, wenn es darum geht, Rache zu üben. Junge Leute sind mir zuwider. Über die Keime all dieser Charakterschwächen verfügen Sie ebenfalls, zum Glück sind Sie jedoch nicht in der Position, ihnen Geltung zu verschaffen. Falls wir also in diesem akademischen Jahr, das wir zusammen ver bringen werden, nicht gut miteinander auskommen sollten, dann werden Sie gezwungen sein, zähneknirschend, aber still gegen mich zu intrigieren, was ich Ihnen jedoch nicht empfehlen würde. Und jetzt, da wir so ungefähr geklärt haben, was wir voneinander zu erwarten haben, können wir zu den guten alten Formalitäten zurückkehren. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Péter Patai. Ich gehe davon aus, dass Sie bereits von mir gehört haben. Ich werde die Vorlesungen im Fach dialektischer Materialismus halten, auch bekannt unter dem Geburtsnamen Philosophie. Jetzt sind Sie dran. Stellen Sie sich vor. Jeder von Ihnen bekommt sechs Sekunden, um aufzustehen, sich umzudrehen und schön laut seinen Namen zu rufen. Das wird ungefähr fünfzehn Minuten in Anspruch nehmen. Vorausgesetzt, alle sind hier. Wenn jedoch, sagen wir, ein Drittel des Jahrgangs fehlt, was offensichtlich der Fall ist, verkürzt sich die Zeit auf zehn Minuten. Das ist die Gnadenfrist für diejenigen, die noch nicht hier sind. Wenn es also unter Ihnen Individuen gibt, die über bestimmte relevante Informationen und eine gewisse Ganovenehre verfügen, sollten sie, nachdem sie sich hier vorgestellt haben, die Baracken abklappern oder ins Dorf laufen, um die Kollegen zu holen, die ihren Katzenjammer auskurieren. Wer nämlich bis zum Ende der Vorstellungsrunde nicht anwesend ist, hat bei der Semesterabschlussprüfung ausgesprochen schlechte Karten. Im Klartext heißt das, ich schicke ihn von vornherein zur Nachprüfung.“
„Herr Patai, was ist, wenn jemand krank ist?“
„Ich habe Ihren Namen nicht gehört.“
„Attila Halász.“
„Stehen Sie auf und drehen Sie sich um, damit die anderen Sie verstehen. Danke. Der Kollege hat eine wichtige Frage gestellt.
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