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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Zacken aus der Krone brechen“, sagte Vater. Er dachte, das sei es, was Gerda denke und nur aus Mitleid nicht ausspreche. Dabei hatte sie sich gerade Vorwürfe gemacht, eine jesushafte Erscheinung davon überzeugen zu wollen, Pförtner zu werden. Gerade Vater, dachte sie, und gerade ich! Das machte sie ein bisschen bedrückt. Dabei war sie nur einem der zahlreichen Paradoxa der Liebe begegnet, nämlich dem Pförtner-Paradoxon:
Wer dich nicht als Pförtner sehen will, wird dir eine Stelle als Pförtner verschaffen
.
    Die Konservenfabrik blieb in dieser Nacht unbewacht. Eigentlich war es auch gar keine Konservenfabrik, sie hatte diesen Namen nur dem Dünkel der Nyéker zu verdanken. Es war ein Lager, das aus zwei großen und zwei kleinen Kühlhäusern bestand. Vater hätte in einer wirklichen Konservenfabrik gar nicht Pförtner sein können, da man auch dafür politisch tragbar sein musste, schließlich konnte man eine wirkliche Konservenfabrik jederzeit zu einer Munitionsfabrik umbauen – was gewissermaßen auch eines der Paradoxa der Liebe war, nur im negativen Sinne.
    „Selbst das hier wird sich nie im Leben herausstellen“, sagte er zu Gerda, die auf dem Fahrradrahmen saß, danach konnte er aber nicht mehr sprechen, weil er sich so anstrengen musste. Trotzdem ließ er Gerda nicht absteigen. Und Gerda allein gehen zu lassen, kam erst recht nicht infrage, vor allem nicht, nachdem man nicht wissen konnte, wohin Szalai verschwunden war. Gerda diskutierte nicht mit ihm. Sie wusste, es war die Pflicht eines Vaters, vom Schlimmsten auszugehen, in dem Fall davon, dass Szalai nur aus List den Nachhauseweg eingeschlagen hatte, um dann in einem großen Bogen auf Gerdas Weg zu gelangen und irgendwo im Dunkeln mit lüsterner Miene auf sie zu warten.
    Dabei waren weder Szalai noch seine Frau gefährlich. Sie bettelten nicht einmal. Sie sammelten Krimskrams, den sie anschließend auf dem Markt am Ecseri-Platz verkauften.
    Sie fuhren an den Hoheitsgebieten der verschiedenen Nachtigallen vorbei.
    „N-1, N-2, N-3“, zählte Gerda sie. „Mach dir gar keine Hoffnungen. Ich werde dich sowieso nicht in Ruhe lassen. Solang du nicht mit Onkel Olbach redest.“
    Aber sie wusste, dass alles Reden vergeblich war. Vater nickte, ja, ja, schon gut, dann setzte er Gerda vorm Haus ab und stieg wieder aufs Fahrrad.
    Zunächst fuhr er in Richtung Konservenfabrik, doch unterwegs beschloss er zu fliehen. Denn sobald er allein auf dem Fahrrad saß, kam ihm eine furchtbare und ungerechte Eingebung: Er dachte daran, sich umzubringen.
    „Du bist nur ein Buckel auf dem Rücken deiner Familie“, flüsterte ihm eine Stimme zu. „Du bist nichts als eine Last für sie. Befreie sie von dir. Sie werden auch ohne dich zurechtkommen, mach dir keine Sorgen. Und für dich wird es auch besser sein. Aus dir wird sowieso nie mehr etwas. Opfere dich.“
    Das sagte die Stimme. Sie war stark und sprach logisch. Und ungerecht.
    Vater verdankte sein Leben nur seinem Gehirn, das so seltsam beschaffen war, dass es auch diese böse Vision in einen praktischen Rat minderte: Geh, flieh, rette dich.
    Und Vater entschied sich. Am kleinen Laden bog er rechts ab, rollte zum Flachland und fuhr in Richtung Budapest. Pläne hatte er noch keine. Aber seine Flucht war eine echte Flucht, nicht nur ein verzweifelter Einfall, der jedem Mann mit Familie mal kommt: Weg von hier, egal wohin, nur weg. Das war eine echte Flucht, die endgültig sein sollte.
    Als ich erfuhr, dass mein Vater zu einer richtigen Flucht eines richtigen Mannes fähig war, dazu, seine Familie zu verlassen, zu einer wirklich schlimmen Tat, war ich sehr stolz auf ihn. Ich beneidete ihn auch. Ich wäre dazu nie fähig gewesen. Als ich Jahrzehnte später vor meiner Familie floh, wusste ich von Anfang an, dass ich am nächsten Morgen wieder zu Hause sein würde. Aber Vaters Flucht war eine richtige Flucht. Bevor er am nächsten Morgen nach Hause kam, hatte er in dieser Nacht viele Stunden lang die Absicht gehabt, niemals zu uns zurückzukehren.
    Gerda schlich währenddessen ins Haus. Wir schliefen vorübergehend alle in einem Zimmer, in mit Vorhängen voneinander getrennten Schlafkabinen. Gerda konnte im Dunkeln Mutters und Erikas Atmen vernehmen. Meines hörte sie nicht, das wurde ihr aber erst klar, als sie sich auf den Kater gelegt hatte. Ich war der Einzige, der nach dem furchtbaren Miauen und Gerdas markerschütterndem Schrei nicht auftauchte.
    „Katerchen, lebst du noch?“, rief sie, jetzt musste sie nicht

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