Liebe Unbekannte (German Edition)
mehr leise sein, weil ohnehin schon alle wach waren. Mutter und Erika. Da entdeckten sie, dass ich nicht in meinem Bett lag, denn sie blickten auch hinter meinen Vorhang, um nachzusehen, ob die erschrockene Katze sich nicht bei mir verkrochen hatte.
„Mein Gott, wo ist denn Tomi?“
Zumindest blieb Vater das erspart. Er war zu dem Zeitpunkt bereits weit weg. Er war sich nun schon sicher, geflohen zu sein, wusste nur noch nicht, was er mit sich anfangen sollte. Ihm fiel der eine oder andere Freund ein, den er früher jederzeit hätte wecken können, wenn etwas Schlimmes passiert war. Es stellte sich jedoch über alle von ihnen noch während der Fahrt heraus, dass man keinen von ihnen mehr wecken konnte.
„N-31, N-32, N-33“, zählte er innerlich die Hoheitsgebiete der Nachtigallen zwischen Nyék und Budapest, um nicht nachdenken zu müssen.
Ich war natürlich nicht verloren gegangen. Gerda, Erika und Mutter fanden mich auf der Terrassentreppe, unter einer Decke schlafend. Ich hatte mich hinausgesetzt, um mich abzuhärten.
Ich hatte schlecht geschlafen. Mir schwirrte Onkel Olbachs Angebot vom Umzug in die Burg im Kopf herum. Aber ich konnte mich nicht freuen, weil ich schon groß genug war, um zu wissen, dass wir niemals in die Burg ziehen würden. Dann versuchte ich, mir Emma Olbachs Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, aber ich konnte mich nur an das ihrer Mutter erinnern. Als Gerda dann zu Vater ging und die Tür hinter sich zuzog, erwachte ich. Ich stand auf und ging hinaus in die Dunkelheit.
Ich setzte mich im Schlafanzug mit meiner Decke auf die Terrassentreppe, an unser eigenes Donauufer, um mich abzuhärten. Ich hatte nämlich schon gemerkt, dass ich mich als Kind nicht besonders bewährt hatte, aber ich hatte ja noch die Zukunft vor mir, mit all ihren großen Geheimnissen, die es zu entdecken galt. Es war völlig klar, dass ich mich hierfür mit der Dunkelheit anfreunden musste, weswegen der erste Schritt darin bestand, mich zunächst an sie zu gewöhnen. Und dazu wiederum musste ich die Angst besiegen. Wenn Vater es allein in der Dunkelheit aushielt, hielt ich es auch aus. Ich setzte mich also hinaus, um mich abzuhärten: Um die furchteinflößende, rote Mondsichel anzuschauen, zu zittern, zu bibbern und zu wachsen, wachsen, wachsen, um kein Kind mehr zu sein.
Und das war gut. Sich abzuhärten, tat gut. Ich starrte den roten Mond an, zitterte, bibberte und wusste, dass ich dabei immer mutiger wurde. Von Augenblick zu Augenblick mutiger. Und dadurch nahm meine Angst noch mehr ab. Irgendwann war sie dann völlig verschwunden. Und da glaubte ich, die Angst besiegt zu haben und tatsächlich: Ich war gerade schon zu einem Schatten der Nacht geworden, man hätte sich auch vor mir fürchten können, wie ich da so im Dunkeln saß, und das beruhigte mich. Wer sagt’s denn, ich kann das doch. Und plötzlich überkam mich eine unsägliche Traurigkeit. Mir wurde blitzartig klar, bereits alles verpasst zu haben. Ich würde bald vierzehn werden, ich hätte eher mit etwas anfangen müssen. Nun war es zu spät. In der Welt geschah zu vieles und ich hatte nicht rechtzeitig damit begonnen, die Ereignisse zu verfolgen. Die
Große Geschichte
der Welt rückte zunehmend von mir fort, da sie auch in diesem Augenblick irgendwo geschah und geschah und geschah, überall geschahen die großartigsten Dinge, nur dort nicht, wo ich war. Ich würde nie ein großer Mann werden, ich hätte mit allem eher anfangen müssen.
Ich saß da, härtete mich ab und wusste, dass alles keinen Sinn hatte.
Und da musste ich weinen und schlief ein.
Später kam der Dämon. Genau so, wie er überall ankommt: Am ehesten wie ein Windstoß, der jedoch keinen Ast bewegt. Er kam, um nach mir zu sehen. Er beobachtete mich seit Langem, wollte aber noch nichts von mir. Ich war noch zu sehr Kind, um Dämonen zu haben. Er betrachtete mich mit seinen Dämonenaugen, sah, dass ich weinte und wusste auch weshalb: Er hatte schon genug Jugendliche weinen sehen.
Dann verließ er mich. Mehr hätte er mir auch nicht helfen können, und bis zur Morgendämmerung warteten ja noch achtzig bis fünfundachtzig Millionen Seelen auf ihn. Er sagte aber noch, wenn ich wollte, würde er mir später Geschichten erzählen, ich sollte ihn ruhig besuchen, sogar seine Adresse verriet er mir, aber er nuschelte so und ich schlief auch schon. Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis ich ihn aufsuchen würde, aber an diesem Morgen des Osterdienstags begann ich, meine Fragen an ihn zu
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