Liebe und andere Parasiten
er der Normalo neben der wilden Rockröhre gewesen. Doch während er vor der Menge mit den Hüften wackelte und Songs ins Mikro spuckte und dabei innerlich mit den Renditen von Offshore-Ölfeldern beschäftigt war, dachte sie, wie sich herausstellte, an Kinder; sie dachte daran, während sie, auf die Gitarrensaiten eindreschend, massive Brocken aus der Luft hackte, in messerscharfer Harmonie mit ihm sang und die Lautsprechertürme zum Zittern brachte. Ritchie hatte sich nicht geändert; aber sie. Vor Jahren begann hinter ihrer Krawallfassade die Tugend hervorzulugen, und bald musste Ritchie hilflos mit ansehen, wie das Moralpodest seiner Frau aus den Tiefen aufstieg und an seinem vorbeizog und immer weiter stieg, bis sie turmhoch über ihm stand. Es war weniger so, dass sie sich von Coke, Cocktails, Sex mit hübschen Jungen wie Mädchen und Zigaretten lossagte, als dass sie das alles lässig abstreifte wie ausgetretene alte Schuhe. »Lass uns aufs Land ziehen«, sagte sie, und sie kauften ein Haus in Hampshire. Sie stand ihm zur Seite, schön, begabt, witzig, liebevoll, allein die Seine und Mutter seiner Kinder, und er verstand die Welt nicht mehr.
Karin kam ins Zimmer und lächelte ihn auf eine Art an, die Ritchie deutete als »Lass uns nicht reden, ja?«. Sie öffnete einen der Schränke und begann, ihre alten Kleider durchzuschauen. Die Bügel klickten an der Stange, und Ritchie spürte, wie die Wortlosigkeit sich aufblies, bis sie gegen die Zimmerwände drückte. Karin nahm sich ein kurzes Kleid mit kobaltblauen Pailletten und ein anderes mit schwarzen Perlen und warf sie aufs Bett. Sie holte einen Karton hervor, wühlte darin herum und kippte ihn aus. Gefärbte Federn, paillettenbesetzte Handschuhe und Hüte aus metallisch schillerndem Bast ergossen sich auf die gelackten Fußbodendielen. Sie kniete sich hin und durchstöberte ihre alten Schätze.
»Gehst du aus?«, fragte Ritchie. Karin schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken. Sie enthedderte ein Halsband aus Jadeimitat von einem goldenen Plastikstirnreif mit blauen Plastiksteinen und warf den Stirnreif aufs Bett.
»Ich hab Ruby versprochen, Sachen zum Verkleiden für sie rauszusuchen. Ihre Freundin Deni kommt heute zum Spielen«, antwortete sie. »Ich muss Abendessen für sie machen. Vielleicht bleibt mir danach noch Zeit für ein paar Telefonate, bevor Denis Mutter sie abholen kommt und ich mir ihre Sorgen anhören muss. Wenn das erledigt ist, müssen Dan und Ruby ins Bett gebracht werden und vorgelesen bekommen. Ich glaube kaum, dass ich ausgehen werde.«
Wie jedes Mal, wenn seine Frau ihn daran erinnerte, wie sehr ihr Leben Dan und Ruby gewidmet war, kam Ritchie der Gedanke, sie zu fragen, warum sie so viel Zeit mit der Kinderbetreuung verbrachte, wo sie doch Milena dafür bezahlten. Er stellte die Frage nicht mehr, weil er nichts gegen Karins Antwort sagen konnte, dass Dan und Ruby ihr zu wichtig waren, um sie von einer anderen großziehen zu lassen. Wenn Karin das sagte, glaubte er es; warum auch nicht? Er liebte die Kinder genauso. Doch noch während er sich selbst die Antwort gab: Ja, natürlich, weil sie die beiden liebt, kam ihm ein zweiter Gedanke, dass es zu Karins schon lange laufendem Überlegenheits- und Vorwurfsspiel gehörte. Es war genial. Sie spielte die gute Mutter und bessere Erzieherin und beraubte ihn gleichzeitig seiner großen Stärke in der Familie, seiner Großzügigkeit, seiner Fähigkeit, die Bedürfnisse und Wünsche der Seinen zu erkennen und die Brieftasche zu zücken, um sie zu befriedigen. Anfangs bestanden diese beiden Bilder von Karin – als liebende Mutter und als gerissene Partnerin – in Ritchies Kopf nebeneinander, wobei das erste mehr Raum einnahm. Doch das Bild von Karin als liebender Mutter war so vordergründig und simpel, dass es ihn nicht besonders interessierte, wohingegen das Bild der gerissenen Karin provokant und faszinierend war und von Ritchie scharfsinniges Handeln verlangte. Folglich schob er das Bild der liebenden Mutter beiseite und drehte und wendete und prüfte lieber das Bild der gerissenen Karin, bis es zu einem natürlichen Teil seiner Vorstellungswelt wurde. Der Gedanke einer listigen, berechnenden Karin baute ihn auf. Für Ritchie bedeutete das, dass ihr wildes altes Ich nicht verschwunden war.
Karin legte die übrigen Kostümartikel wieder in den Karton zurück und verstaute ihn im Schrank. Ritchies Augen huschten zu dem arroganten Grinsen der jungen Karin an der Wand. Die zwanzig Jahre
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