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Liebe und Tod in Havanna

Liebe und Tod in Havanna

Titel: Liebe und Tod in Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérômel Savary
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sind, im Leichenschauhaus. Für einen Moment klebten Jos Lippen an der eisigen Haut, dann, als ob sie noch lebte, waren Wassertropfen über ihre Stirn geperlt und hatten sich mit Jos Tränen vermischt, die über ihre Nase in die Mundwinkel liefen.
    »Leb wohl, meine kleine afrikanische Königin! Leb wohl, meine kleine Nieve! Bitte verzeih mir!«, flüsterte Jo, als der Leichenträger die schwere Schublade wieder schloss.
    Mamita nahm seine Hand und zog ihn auf die Straße.
    Jo brachte sie nach Hause und gab ihr die hundert Dollar.
    »Ich komme morgen Abend wieder.«
    »Nein, geh nicht weg!«, flehte Mamita. »Trink noch einen Whisky, Jo, ich hab das Gefühl, dass ich dich nie mehr wiedersehe.«
    Sie stiegen in den ersten Stock hinauf, wo sich das einzige Zimmer befand. Ein Loch, das auf eine Gemeinschaftsgalerie hinausging. Jo hatte dieses Zimmer nie betreten. Er hatte immer vor der Tür auf Nieve gewartet.
    Mamita schob den Cousin hinaus, der auf die Kleine aufgepasst hatte.
    »Setz dich, Jo. Diese drei Stühle hier hat Nieve gleich am Tag nach eurer ersten Begegnung gekauft. Jeden Tag hat sie etwas gekauft. Es ist sehr eng hier, aber sie wollte, dass es komfortabel ist. Soll ich dir den Fernseher anmachen? Der Fernseher ist auch von dir, Jo, aus der zweiten Woche.«
    »Nein, danke, Mamita, lass den Fernseher aus, gib mir nur ein Glas.«
    »Nimm die Flasche und bedien dich. Schließlich ist es deine Flasche. Ich kümmere mich inzwischen um die Heiligen, damit sie für meine Kleine sorgen.«
    In einer Ecke des Zimmers, auf einem wackligen Regal, bemerkte Jo einen Santería-Altar.
    »Fast alles, was du hier siehst, Jo, kommt von dir«, sagte Mamita und begoss den Altar mit Wasser. Dann zündete sie eine Kerze an. Nun konnte Jo alle Kultgegenstände deutlich sehen.
    »Sieh dir die kleine Whiskyflasche an, die hast du eines Abends vom Flughafen mitgebracht.«
    Jo erkannte die Miniflasche, eine von denen, die an Bord der A.O.M.-Maschinen serviert wurden.
    »Und die Zigarre, das ist die, die du auf der Treppe im Patio hast liegen lassen, an dem Abend, als du auf Nieve gewartet hast, um mit ihr ins Capri zu gehen. Der Honig ist für die Liebe. Die Krawatte, damit du bei deiner Arbeit glücklich bist, sie hat sie dir geklaut.« Mamita brach in Gelächter aus. »Du hast es gar nicht gemerkt, hm? Die Socken, damit du immer weiter gehst, immer hübsch geradeaus, und damit du tust, was du tun musst.«
    Mamita lachte und weinte zugleich, als sie die verschiedenen Gegenstände aufzählte, die ihren erbärmlichen Altar bildeten. Ein Altar zu Jos Ehren, nach seinem Bilde.
    »Wir legen die Zöpfe neben die Socken. Mit der Rückseite nach vorn, damit es so aussieht, als wäre das Gesicht dahinter, der Wand zugedreht. So kann man sich bei Kerzenschein und wenn man einen sitzen hat, vorstellen, dass sie schläft, und man kann ganz leise mit ihr reden, nicht, Jo?«
    »Ja, Mamita, so machen wir es«, erwiderte Jo, während er seine Flasche leerte. Auf einer Matratze zu seinen Füßen schlief das Kind.
     
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    Als die Flasche leer war, erhob Jo sich schwankend.
    »Kommst du mich wieder besuchen, Jo? Kommst du die Kleine besuchen?«
    Mamita redete wie ein Kind, mit zarter Stimme.
    »Natürlich komme ich wieder, Mamita! Und Weihnachten feiern wir, du wirst sehen.«
    Sie begann erneut zu weinen.
    »Es wird nicht mehr so sein wie vorher, Jo! Ich hab ihr so gern Zöpfe eingeflochten, bevor sie zu dir in die Calle Neptuno ging. Weißt du, wenn sie am nächsten Tag zurückkam, erzählte sie mir alles! Sie sagte: Gestern hat Jo mich auf die Nase geküsst, er hat mir den Kopf gestreichelt, er hat mich von hinten genommen. Meine Nievita hat mir alles erzählt. Und ich bin richtig ins Träumen geraten, sie war so glücklich! Sie hat dich so sehr geliebt! Was soll ich jetzt tun?«
    »Du wirst es machen wie ich, Mamita, du wirst leben. Für die Kleine.«
    Die Alte nahm seine Hand und küsste sie, lange, wie sie als Kind in Santiago die Hand ihres Vaters geküsst hatte.
    »Ich hab dich gern, Jo, du wirkst nicht wie ein Ausländer.«
     
    ––– ¤ –––
     
    Als er über den Malecón zurückkehrte, fuhr Jo an hundert Jineteras vorbei.
    Alle zehn Meter zeichnete sich in der Gischt — denn die Wellen schlugen hoch an jenem Abend – im Lichtkegel seiner Scheinwerfer die Silhouette einer Frau mit herausgestrecktem Po ab, die mit den Armen ruderte, und hundertmal schien ihm, als würde er hinter seinem Tränenschleier Nieve

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