Liebe und Vergeltung
Vorfahren zu sehen, am besten jedoch beide.
Plötzlich erregte ein Kind ihre Aufmerksamkeit, das sich eilig Haddonfield House genähert hatte und eben einige Stufen zum Portal hinaufgelaufen war. Im gleichen Augenblick rannte ein ruppig aussehender Mann auf das Mädchen zu und fragte etwas. Das Kind drehte sich um, sank unvermittelt zusammen und wurde von dem Mann aufgefangen. Jenny konnte nicht erkennen, was geschehen war. Im nächsten Moment rollte eine Droschke vor; der Wagenschlag wurde von innen geöffnet, und der Mann trug das Mädchen in die Kutsche.
Stirnrunzelnd hatte Jenny den Vorfall beobachtet. In jedem anderen Viertel der Stadt hätte sie sich Sorgen um das Kind gemacht, und auch in Mayfair war der Vorgang ein merkwürdiges Ereignis. Das Mädchen hatte jedoch mit dem Mann gesprochen. Wahrscheinlich kannte es ihn, und die Sache war in Ordnung.
Flüchtig überlegte Jenny, ob sie Lady Sara davon berichten sollte, ließ den Gedanken aber fallen. Zum Eingreifen war es ohnehin zu spät, denn die Droschke hatte sich längst in Bewegung gesetzt und entschwand Jennys Sicht. Ganz abgesehen davon, war es ein Wagen wie unzählige andere.
Dennoch ging Jenny die Szene nicht aus dem Sinn. Der Mann war ihr irgendwie bekannt vorgekommen. Trotz aller Mühe konnte sie sich indes nicht erinnern, wo sie ihn vielleicht gesehen hatte.
Nachdem sie das vor Entsetzen stumme, sie nur ängstlich aus weitgeöffneten blauen Augen anstarrende Kind im Zimmer eingeschlossen hatte, ging Mrs. Bancroft ins Vestibül zurück und sagte unwirsch: „Das ist nicht das Mädchen, das ihr herbringen solltet, ihr Trottel! Der Herr wird furchtbar wütend sein. Vermutlich habt ihr das verzogene Gör eines reichen Gentleman entführt!“
Rob und Berney sahen sich unbehaglich an.
„Die Beschreibung paßte auf sie“, wehrte sich Berney. „Sie ist bestimmt ein Dienstmädchen oder so etwas. Wie die Tochter eines vornehmen Mannes ist sie jedenfalls nicht angezogen. Außerdem kam sie allein die Straße entlang.“
Mrs. Bancroft konnte dem Einwand nicht widersprechen. Aber das Kind war nicht Jennifer, und Sir Charles würde bestimmt aufgebracht sein. Vielleicht ließ sich sein Zorn mit dem Hinweis besänftigen, die Kleine wäre hier sehr gut zu gebrauchen. Sie war jung, sah hübsch aus und fürchtete sich zu Tode — genau das, was die Kunden wünschten. In dieser Nacht allein würde sie mindestens fünfzig Pfund einbringen.
Auch aus diesem Grund war es besser, sie nicht laufen zu lassen. Andernfalls konnte die Hölle los sein, wenn sie den Eltern erzählte, was geschehen war. Natürlich würde sie den Weg zu diesem Haus nie beschreiben können. Dennoch war es ratsamer, die Polizei gar nicht erst aufmerksam zu machen und sich der Gefahr auszusetzen, daß überall nach den Entführern gesucht wurde.
Mrs. Bancroft begab sich in ihren Salon und schrieb Sir Charles:
Sir, bedauerlicherweise ist Rob und Berney ein Irrtum unterlaufen. Sie haben nicht Jennifer gebracht, sondern ein noch sehr junges und äußerst anziehendes Mädchen.
Ich schlage vor, es zumindest für diese Nacht, wenn nicht länger, hierzubehalten und für uns arbeiten zu lassen. Bitte, informieren Sie mich umgehend über Ihre Entscheidung.
Sie versiegelte das Billett und schickte Rob damit zu Sir Charles Weldon.
Kaum zwei Stunden später kam er mit der schriftlichen Anweisung zurück, das Mädchen unverzüglich einzusetzen und Rob und Berney erst am nächsten Morgen nach Haddonfield House zurückfahren zu lassen.
Julia Bancroft lächelte zufrieden und freute sich, daß Sir Charles nicht ungehalten reagiert hatte. Auf diese Weise verkehrte ein Fehler sich ins Gegenteil. Das Kind war genau der Typ, den der beste Kunde des Etablissements, ein überaus wohlhabender Kaufmann, bevorzugte.
Sogleich nahm sie wieder am Schreibtisch Platz und verfaßte ein Billett, das dem Gentleman das Eintreffen einer neuen, sehr interessanten Ware kundtat. Sie war sicher, er würde das Mädchen noch in derselben Nacht begutachten kommen.
Der Butler begrüßte Seine Hoheit mit der gebührenden Ehrerbietigkeit, und Michael hoffte, dies wäre ein gutes Zeichen, daß Sara ihn empfangen würde.
„Ich möchte meine Gattin sprechen“, sagte er freundlich.
„Ich werde sehen, ob Ihre Ladyschaft im Hause ist“, erwiderte Harlow würdevoll. „Wenn Sie bitte im Empfangssalon warten würden, Eure Hoheit?“
Michael nickte, und Butler öffnete ihm die Tür.
„Es wird nur einen Moment dauern, Sir“,
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