Liebe und Vergeltung
Fenster. „So, wir sind da.“ Die Kutsche hielt, und Mikahl half Jane aus dem Wagen.
Schon nach dem ersten Klopfen wurde die Tür aufgemacht, und Benjamin Slade ließ die Besucher eintreten. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer“, sagte er ruhig. „Dort sind wir ungestört.“
Er führte den Prinzen und dessen Begleiterin in einen gemütlich eingerichteten, eichengetäfelten Raum. Gaslampen verbreiteten weiches Licht. Stöße von Unterlagen häuften sich auf dem erhellten Mahagonischreibtisch, und der auf einem geöffneten Rechnungsbuch liegende Federkiel zeigte, daß der Hausherr in der Arbeit unterbrochen worden war.
„Das ist Miss Jane Miller“, stellte Mikahl sie seinem Bevollmächtigten vor. „Und das Mr. Slade.“
„Noch nie hat mich jemand Miss genannt“, sagte Jenny verblüfft.
„Sie werden sich daran gewöhnen“, erwiderte Benjamin Slade und schaute sie bewundernd an. Aus Prinz Balagrinis Nachricht, daß er ein Mädchen bei sich aufnehmen sollte, war nicht hervorgegangen, welch hübsche Person zu ihm kommen würde. „Ich nehme an, Sie sind hungrig, Miss Miller“, fügte er hinzu. „Meine Haushälterin hat einen kalten Imbiß und Tee vorbereitet. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
„Ja, gern“, antwortete Jenny.
Benjamin mußte sich zwingen, den Blick von ihr zu lösen, wies einladend auf einen Sessel, der neben einem Tischchen mit Speisen stand, und schenkte ihr dann Tee ein.
Verlegen setzte sich Jenny, bedankte sich höflich und begann zu essen.
„Ich werde mir zu etwas Stärkerem verhelfen, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagte Mikahl, goß sich ein Glas Cognac ein und nahm ebenfalls Platz. „Der Mann, der mich zu dem Etablissement gebracht hat“, fuhr er in ernstem Ton fort, „ist derselbe, über den wir die Nachforschungen anstellen. Das habe ich in dem Brief, den Kuram Ihnen überbracht hat, nicht erwähnt.“ Mikahl zog ein gefaltetes Blatt aus der Innentasche des Gehrockes und gab es Mr. Slade. „Hier ist eine Aufstellung mit den Adressen ähnlicher Örtlichkeiten, die Ihnen nützlich sein wird. Jane arbeitete bei Mrs. Bancroft, die gleich als erste aufgeführt wird.“
Slade hatte sich gleichfalls ein Glas Cognac eingeschenkt, setzte sich und nahm die Liste entgegen. Nach einem flüchtigen Blick sagte er nachdenklich: „Ich habe mir sofort gedacht, daß zwischen unseren Erkundigungen und Miss Miller eine Verbindung bestehen muß.“
„Ich bezweifele, daß Mrs. Bancroft auf eigene Rechnung arbeitet“, erwiderte Mikahl stirnrunzelnd.
„Nein, das macht sie nicht“, warf Jenny Miller ein.
„Du weißt, wer der eigentliche Besitzer ist?“ fragte Mikahl erstaunt, und auch Benjamin Slade schaute sie überrascht an.
„Ja“, bestätigte sie. „Ein reicher Mann, der immer sehr vornehm tut und schrecklich überheblich ist.“
Die Männer tauschten einen bedeutungsvollen Blick, und Mikahl merkte, daß Slade ebenso hellhörig geworden war wie er. Vielleicht hatte der Zufall ihnen zu einer wichtigen Zeugin verholfen. „Kannst du diesen Mann beschreiben?“ erkundigte er sich gespannt.
„Ich schätze ihn auf Ende Vierzig“, antwortete Jenny. „Er ist mittelgroß, hat hellbraunes Haar und eine kräftige Figur.“ „Würdest du ihn wiedererkennen, wenn du ihn siehst?“
Ein harter Zug erschien um Jennys Lippen. „Unter Tausenden!“ versicherte sie in bitterem Ton. „Er war der erste, dem ich zu Willen sein mußte, und er ist nicht rücksichtsvoll gewesen. Obwohl er lieber Mädchen hat, die wirklich noch unberührt sind, ist er regelmäßig auch zu mir gekommen. Er war ekelhaft und widerlich!“
„Woher wissen Sie, daß er der Besitzer des Bordelles ist?“ fragte Benjamin Slade.
„Bei uns wurde viel geredet.“
„Erinnerst du dich, was man sich über diesen Mann erzählt hat?“
„Manchmal habe ich ihn belauscht, wenn er mit Mrs. Bancroft über die Einnahmen sprach. Einmal beschwerte er sich, es wäre nicht genug, und gab ihr zu verstehen, daß sie wohl zuviel für sich abzweigte. Er war richtig wütend und drohte ihr. Sie war eingeschüchtert und hat sich uns gegenüber in den nächsten Tagen sehr zurückgehalten.“
„Kennst du seinen Namen?“ Erregt beugte Mikahl sich vor. „Nein“, antwortete Jenny. „Mrs. Bancroft und wir mußten ihn Master nennen.“
Mikahl glaubte zu wissen, wer der geheimnisvolle Eigentümer des Freudenhauses war. „Es besteht die Möglichkeit“, sagte er und lächelte zufrieden, „daß der Besitzer eines Tages
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