Liebe und Vergeltung
zweites.
Der untere Fensterrahmen wurde ruckend nach oben gedrückt, und mißtrauisch lugte Jenny nach unten.
Mikahl trat aus den Schatten, damit sie ihn erkennen konnte.
Sie winkte hastig und versuchte dann, die Schlaufe des ihr zugeworfenen Seiles zu fangen. Der erste Versuch mißlang, der zweite hingegen hatte Erfolg. Sie bekam das Ende zu fassen, verschwand im Inneren des Raumes und kam gleich darauf mit einem kleinen Bündel zurück.
Schwungvoll warf sie es Mikahl zu, der es behend auffing und auf das Straßenpflaster legte.
Umständlich stieg sie auf den Sims, setzte sich und ergriff das Seil. Sich mit den Händen festklammernd, rutschte sie vorsichtig vom Fenster, pendelte einen Moment hin und her, bis sie mit den Füßen Halt an der Mauer fand, und begann dann den gefährlichen Abstieg. Glücklicherweise stellte sie sich sehr geschickt an und war nach wenigen Minuten in Reichweite des Retters.
Kräftig die Taille umfassend, setzte Mikahl das zitternde Mädchen auf die Straße und fragte besorgt: „Ist dir nicht gut?“
„Doch“, flüsterte sie und nahm das Bündel hoch.
Da sie immer noch am ganzen Leibe flog, zog er die Pelerine von den Schultern, legte sie Jane Miller um und sagte leise: „Komm! Es ist nicht weit zur Kutsche.“
Sich in der Dunkelheit haltend, liefen sie zum Wagen, ohne von irgend jemandem behelligt zu werden. Mikahl drängte Jane in die Droschke, rief Kuram gedämpft den Befehl zum Abfahren zu und stieg dann rasch ein. Aufatmend setzte er sich auf das verschlissene Lederpolster, nahm einen silbernen Taschenflakon aus der Jacke und schraubte den Verschluß auf. „Hier, trink einen Schluck. Es wird dir guttun“, sagte er freundlich und reichte Jane Miller das mit Cognac gefüllte Gefäß.
Sie gehorchte, gab es ihm hustend zurück und zog dann die Pelerine enger um die Schultern.
„Hast du keinen Mantel?“
„Mrs. Bancroft hätte nie Geld für etwas Unnützes ausgegeben“, antwortete Jenny. „Wir durften das Haus doch nicht verlassen.“ Bedrückt schwieg sie eine Weile, ehe sie plötzlich zaghaft äußerte: „Ich habe nicht damit gerechnet, daß Sie wirklich kommen würden, Sir.“
„Das wundert mich nicht. Wie hättest du bei deinem Leben auch Vertrauen zu jemandem fassen sollen!“
„Ich begreife nicht, warum Sie mir helfen“, sagte sie verwirrt. „Warum machen Sie sich meinetwegen solche Umstände? Ich bedeute Ihnen doch nichts. Ich kenne ja nicht einmal Ihren Namen.“
„Man nennt mich Balagrini“, erwiderte Mikahl ruhig. „Und die Mühe, etwas Gutes zu tun, ist nicht der Rede wert.“
„Ich weiß nicht, wie vielen Männern ich zu Willen sein mußte“, äußerte Jenny kopfschüttelnd. „Aber keiner ist je auf den Gedanken gekommen, mir zu helfen. Warum gerade Sie? Was wollen Sie von mir?“
Mikahl merkte, daß er ihr eine Erklärung geben mußte. „Als ich mich gestern nacht mit dir unterhielt“, antwortete er nachdenklich, „wurde mir bewußt, daß du nicht unrettbar verdorben bist. Ich glaube, du hast die Kraft, dir ein anständiges Leben aufzubauen.“ Er blickte das in der Wagenecke kauernde Mädchen an, aber vor seinen Augen erstand das Bild eines ganz anderen Menschen. „Du erinnerst mich an einen Jungen, den ich einmal gekannt habe“, fuhr er gedankenvoll fort. „Auch dieser Junge hat viel erdulden müssen, ohne daß seine Seele zerstört wurde. Hätte ihm nicht auch jemand geholfen, wäre er sicher nicht imstande gewesen, das Beste aus seinem Leben zu machen, so groß seine innere Kraft auch war. Doch zurück zu deiner Frage, was ich von dir will. Nichts, es sei denn dein Versprechen, eines Tages ebenfalls jemandem beizustehen, falls er deiner Unterstützung bedarf.“
„Gern, wenn es mir möglich ist“, versicherte Jenny und fragte dann neugierig: „Waren Sie der Junge, von dem Sie eben gesprochen haben, Sir?“
Der Antwort ausweichend, sagte er: „Hier, trink! Du zitterst ja immer noch.“
Folgsam nahm sie einen langen Schluck aus dem Flakon. „Wohin bringen Sie mich, Sir?“ wollte sie zaghaft wissen und gab Prinz Balagrini den silbernen Behälter zurück.
„Zu jemandem, der für mich tätig ist. Er wird sich um dich kümmern, bis du auf eigenen Füßen stehen kannst.“
„Weiß er, wie ich bisher gelebt habe?“
„Ja, aber das heißt nicht, daß er dich für eine gewerbsmäßige Dirne hält.“
„Erwartet er, daß ich mit ihm schlafe?“
„Nein. Anders als ich, ist er ein anständiger Mann.“ Mikahl blickte aus dem
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