Liebe und Vergeltung
Aus der Erkenntnis, daß sie sich in einer Ehe würde unterordnen müssen, hatte sie auch so lange gezögert, sich zu verheiraten. Charles war unleugbar ein gutaussehender, reicher und wohlerzogener Mann, allerdings auch voreingenommen, engstirnig und humorlos. Ungeachtet der langen Reisen, die er in jüngeren Jahren unternommen hatte, vertrat er den Standpunkt, daß England allen anderen Nationen in jeder Hinsicht überlegen sei. Und soeben hatte sein unbeherrschter Temperamentsausbruch bewiesen, daß er schwierig und unberechenbar war. Andererseits mußte Sara ihm zugute halten, daß seine besitzergreifende Einstellung, so irritierend und unnötig sie auch war, nur einem berechtigten Beschützerinstinkt entsprang.
Beunruhigt durch Saras Schweigsamkeit, drückte Charles ihr die Hand und sagte bittend: „Verzeih mir, falls ich dich verärgert habe.“
„Es gibt nichts zu verzeihen“, erwiderte sie. „Ich weiß, du hast es nicht böse gemeint. In Zukunft solltest du jedoch nicht vergessen, daß ich gut imstande bin, mich aufdringlicher Männer zu erwehren. Dennoch meine ich, daß wir darüber sprechen sollten, was jeder vom anderen erwartet, sobald wir verheiratet sind.“
Charles ließ die Hand seiner Verlobten los und fragte befremdet: „Warum?“
„Ich bin nicht mehr die Jüngste und seit Jahren eine gewisse Unabhängigkeit gewohnt“, antwortete Sara ruhig. „Darauf möchte ich nicht verzichten. Solltest du das nicht akzeptieren können, wäre eine andere Frau für dich wohl besser. Ich möchte nicht, daß du je bereust, mich geheiratet zu haben. Ich lege dir keinen Stein in den Weg, falls dir Bedenken kommen und du die Verlobung lösen möchtest.“
„Dein Ehrgefühl spricht für dich, Sara“, erwiderte Charles beeindruckt. „Du bist genau die Frau, die ich mir wünsche. Ich schätze deine Lebenserfahrenheit und menschliche Reife und
bin gern bereit, dir den gewünschten Spielraum zu lassen. Du wirst mir indes sicher zustimmen, daß eine Gattin sich manchmal dem Rat des Gemahles fügen sollte. Es ist die Pflicht eines jeden guten Ehemannes, seine Frau vor Schaden zu bewahren.“
Sara war nicht überzeugt, aber sie maß dem kleinen Zwischenfall auch nicht zu viel Bedeutung bei. Ihre Verärgerung und Charles’ Anwandlung von Unbeherrschtheit waren bestimmt nur auf Müdigkeit zurückzuführen. „Dann verstehen wir uns ja“, sagte sie gleichmütig. „Du beläßt mir meine Eigenständigkeit, und ich sehe dir das aufbrausende Naturell nach.“
„Einverstanden.“ Die Karosse hielt, und Charles wartete, bis der Lakai den Wagenschlag geöffnet und die Trittstufen heruntergeklappt hatte. Dann verließ er die Equipage, half Sara beim Aussteigen und begleitete sie die Stufen zum Portal hinauf. Er pochte mit dem verschnörkelten Türklopfer gegen die polierte Messingplatte, drehte sich zu Sara um und küßte sie.
Sie war vollkommen überrascht. Der Kuß war fordernd und begehrend, doch so ganz anders als der, den Prinz Balagrini ihr gegeben hatte. Sie wunderte sich, wie gleichgültig ihr dieser Kuß war, der sie so unbeteiligt ließ, daß sie nichts dabei empfand.
Ein Schlüssel knirschte im Schloß, und Charles löste sich von ihr. Er verneigte sich und wartete, bis sie ins Haus gegangen war. Dann kehrte er zur Kutsche zurück, stieg ein und ließ sich schwer gegen das samtene Rückenpolster fallen. In ohnmächtigem Zorn ballte und öffnete er die Hände, während der Wagen durch die nächtlichen Straßen rollte. Wie konnte Sara sich unterstehen, sich gegen ihn aufzulehnen? Aber sie würde bald lernen, daß sie ihm zu gehorchen hatte.
Er dachte nicht daran, die Verlobung zu lösen. Die Vorteile einer Ehe mit Sara wogen alle Nachteile auf. Sie war die Frau, die er brauchte. Gewiß, sie war keine überwältigende Schönheit, sah jedoch so attraktiv aus, daß er sich mit ihr nicht blamieren würde. Ihr kühles, leidenschaftsloses Wesen erregte ihn sogar. Durch sie würde er endlich den gesellschaftlichen Status erhalten, der ihm als jüngerem Sohn bisher verwehrt geblieben war. Zudem war er auf die exzellente Mitgift angewiesen, die sie ihm einbringen würde. Das alles waren Argumente, die ihn letztendlich dazu bewogen hatten, sich mit
Saras Behinderung abzufinden.
Aber es war eine Unverschämtheit, gegen ihn aufzubegehren. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Sara so viel Widerspruchsgeist haben würde. Nun gut, bis zum Tage der Trauung würde er sich zurückhalten müssen, doch dann sollte sie
Weitere Kostenlose Bücher