Liebe und Verrat - 2
Vielleicht stimmt das ja. Aber im Augenblick bleibt mir nichts anderes übrig, als mein Leben wieder in die Hand zu nehmen, samt der Leere, die du darin hinterlassen hast. Und daher sollten wir uns einig sein, dass jeder von uns seinen Weg gehen wird, wie er es für richtig hält.
Sollten sich unsere Wege wieder kreuzen, solltest du irgendwann zu mir zurückkehren wollen, werde ich vielleicht an unserem Fels am Fluss auf dich warten. Vielleicht werde ich eines Tages aufschauen und dich im Schatten der großen Eiche stehen sehen, die uns in so vielen Stunden gestohlener Zweisamkeit behütet hat. Was immer passiert, Lia, mein Herz wird stets dir gehören. Ich hoffe, du behältst mich in guter Erinnerung.
James
Der Brief ist keine Überraschung. Wie könnte er auch? Ich habe James verlassen. Meinen einzigen Brief an ihn schrieb ich an dem Abend, bevor Sonia und ich nach London abreisten, und der lieferte ihm weder Antworten noch Erklärungen. Nur eine Beteuerung meiner Liebe für ihn und das vage Versprechen, zurückzukehren. Diese Worte verloren wohl für James an Bedeutung, nachdem ich keinen einzigen seiner Briefe beantwortet habe. Ich kann ihm seine Enttäuschung und seine Abkehr von mir nicht übel nehmen.
Meine Gedanken wandern zu einem wohlbekannten Ort, einem Ort voller Freude. Es ist ein Ort in meiner Fantasie, an dem ich James alles erzähle und ihm das anvertraue, was ich ihm verschwiegen habe, ehe ich New York verließ. Ein Ort, an dem er an meiner Seite steht, während ich die Prophezeiung auf eine Art und Weise beende, die uns die Hoffnung auf eine Zukunft erlaubt.
Aber es dauert nicht lange, bis ich meiner Fantasie den Rücken kehre und mich streng zurechtweise, dass diese Wunschträume vergeblich sind. Die Prophezeiung hat bereits das Leben meines Vater und meines Bruder gekostet und – in gewisser Weise – auch mein eigenes. Ich könnte es nicht ertragen, wenn noch ein weiteres Leben ausgelöscht werden würde, noch dazu, wenn es James’ Leben wäre. Es war unsinnig zu glauben, dass er auf mich warten würde, wenn ich nicht einmal in der Lage bin, ihm die Gründe für meine Abreise zu nennen.
Die unangenehme Wahrheit ist, dass James’ Entscheidung von Klugheit und Besonnenheit zeugt, während ich lediglich naiv war. Mein Herz verkrampft sich in der Erkenntnis, die ich vor mir selbst verborgen habe und um die ich stets dann einen großen Bogen machte, wenn ich Gefahr lief, ihr zu nahe zu kommen.
Aber sie war immer da.
Ich stehe auf und trete mit dem Brief an das ersterbende Kaminfeuer. Ich will das Blatt, ohne zu zögern, in die Glut werfen, will nicht einer Zukunft nachweinen, die niemals wahr werden kann, es sei denn, die Prophezeiung ist zu einem Ende gebracht.
Aber es ist nicht so einfach. Meine Hand hält wie von selbst mitten in der Bewegung inne, bleibt vor dem Kamin in der Luft hängen, erwärmt sich durch die Hitze des Feuers. Ich rede mir ein, dass dieser Brief bloß Papier und Tinte ist. Dass James vielleicht doch auf mich wartet, wenn ich meine Aufgabe erledigt habe. Aber der Brief ist eine Erinnerung, die mich wie die Schwingen eines Albatros beschatten würde, eine Erinnerung, die ich mir nicht leisten kann. Ich würde ihn nur immer wieder lesen, und deshalb muss ich ihn vernichten. Ich darf nicht zulassen, dass er mich von meiner Aufgabe ablenkt.
Dieser Gedanke löst meinen Griff um das Blatt Papier. Ich werfe es ins Feuer, als ob der Brief selbst in Flammen stehen würde. Als ob er allein durch seine bloße Existenz meine Hand verbrennen könnte. Ich schaue zu, wie sich die Ränder des Papiers in der Hitze wellen. Und nach wenigen Momenten ist es so, als ob ich die Worte, die James in seiner ordentlichen Handschrift zu Papier gebracht hat, nie gelesen hätte. Als ob sie niemals geschrieben worden wären.
Die Vernichtung des Briefes lässt meinen ganzen Körper erzittern. Ich schlinge die Arme um mich und versuche, mich selbst festzuhalten. Ich sage mir, dass ich mich der Vergangenheit entledigt habe, ob es mir gefällt oder nicht. James gehört nicht länger zu mir. Alice und ich stehen einander als Feinde gegenüber.
Jetzt gibt es nur noch die Schlüssel, die Prophezeiung und mich.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber als ich aufwache, ist das Feuer schon fast gänzlich heruntergebrannt. Ich schaue mich in dem dunklen Raum um, auf der Suche nach dem Ursprung des Geräuschs, das mich geweckt hat, und erblicke eine Gestalt, so durchscheinend wie ein
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