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Liebe und Verrat - 2

Liebe und Verrat - 2

Titel: Liebe und Verrat - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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sie herausfände, dass ich mich ohne Begleitung in den Anderswelten aufhalte, aber ich bin neugierig auf meine Schwester und möchte die Gelegenheit wahrnehmen, einen Blick auf ihr Leben ohne mich zu erhaschen.
    Und vielleicht auch einen Blick auf James. Dieser Gedanke ist ein bloßes Flüstern in meinem Herzen.
    Der Himmel ist tintenschwarz und endlos. Nur eine schmale Mondsichel erhellt das hohe, schwankende Gras der Felder. Der Wind rauscht durch das Laub, und ich erkenne die Anzeichen eines heraufziehenden Sturms, das fast sichtbare Knistern eines nahenden Blitzes und das darauf folgende Donnern. Doch im Augenblick ist noch alles still, fast unheimlich still.
    Dunkel und mächtig ragt Birchwood Manor in den Himmel. Die hohen Steinmauern erheben sich wie eine Festung in die Nacht. Das Haus kommt mir verlassen vor, selbst aus der Entfernung. Die Lampen, die bei Einbruch der Dunkelheit immer neben dem Eingangstor entzündet werden, sind erloschen, die Bleiglasfenster der Bibliothek undurchdringlich schwarz, obwohl es seit Langem üblich ist, die Lampe auf Vaters Schreibtisch in der Nacht brennen zu lassen.
    Und dann stehe ich vor dem Eingang. Der eiskalte Marmor brennt sich in meine nackten Fußsohlen; ich spüre es zwar, aber es kümmert mich nicht. An diese Distanz, die ich während der Reise mit den Schwingen zu meinem Körper empfinde, habe ich mich längst gewöhnt. Die Standuhr im Foyer tickt leise. Ich schleiche die Treppe hinauf und steige instinktiv über die vierte Stufe hinweg, die knarrt.
    Wie so vieles in meinem Leben, ist auch mein Zuhause mir fremd geworden. Ich erkenne es noch – die abgewetzten, uralten Teppiche, das mit Schnitzereien verzierte Geländer aus Mahagoni – aber es ist so, als ob es sein Wesen verändert hätte, als ob es nicht mehr dieselben Steine, dasselbe Holz und derselbe Mörtel wären, die mich seit meiner frühesten Kindheit behütet haben.
    Das dunkle Zimmer, am Ende des Korridors. Ich bin nicht überrascht, dass die Tür offen steht. Licht dringt heraus.
    Ich bewege mich darauf zu. Ich empfinde keine Angst, sondern Neugier, denn es geschieht nur selten, dass ich unvermittelt mit den Schwingen reise, ohne Sinn und Zweck. Die Tür zu meinem eigenen Schlafzimmer ist geschlossen, genauso wie die Türen zu den Räumlichkeiten von Henry und meinem Vater. Alice ist nun der Mittelpunkt des Hauses. Sie kümmert sich nur um sich selbst. Vermutlich fällt es ihr leichter zu vergessen, dass sie einmal eine Familie hatte, wenn alle Türen fest verschlossen bleiben.
    Mir macht das nichts aus, denn ich trage die Erinnerungen an meine Vergangenheit, an meine Familie, nicht in den dunkelsten Kammern meines Herzens, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern in den hell erleuchteten Winkeln, wo ich sie in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit sehen kann.
    Ohne zu zögern betrete ich das dunkle Zimmer. Die Gesetze der Grigori bewahren mich davor, gesehen zu werden, selbst wenn ich es anders wünschen würde. Selbst wenn ich mir wünschen würde, über die gleichen verbotenen Mächte zu verfügen, die Alice sich augenscheinlich dienstbar gemacht hat.
    Was ich nicht tue.
    Mein Blick fällt sofort auf meine Schwester. Sie sitzt auf dem Boden in der Mitte des Kreises. Es ist derselbe Kreis, den ich vor vielen Monaten entdeckt habe, derjenige, den sie in die Holzdielen des Bodens unter dem alten Teppich geritzt hat. Obwohl meine Fähigkeit als Zauberin sich nicht mit der meiner Schwester messen kann, weiß ich doch genug, um zu erkennen, dass der Kreis die Macht des Zauberers in seiner Mitte verstärkt und ihn gleichzeitig beschützt. Der Anblick lässt mich erschauern, selbst in meiner augenblicklichen körperlosen Form.
    Alice trägt ihr weißes Nachthemd. Es ist mit lavendelfarbenen Seidenbändern verziert. Diese Nachthemden wurden gleich im halben Dutzend genäht, drei für mich, drei für Alice. Ich erinnere mich noch gut an sie. Ich trage meine nicht mehr, weil sie ebenfalls Teil eines vergangenen Lebens sind. Aber Alice, in ihrem Nachthemd, wirkt unschuldig und einfach nur entzückend, wie sie da mit geschlossenen Augen auf den Fersen hockt. Ihre Lippen bewegen sich kaum hörbar, wie im Gebet.
    Ich bleibe eine Weile still stehen und betrachte das Licht und die Schatten, die sich auf ihrem Gesicht ein Stelldichein geben, angefeuert von den Kerzen rund um den Kreis. Ihre gehauchten Worte lullen mich ein und ich falle in eine merkwürdige Trance. Mir werden die Augenlider schwer, obwohl mein Körper in

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