Liebe und Verrat - 2
sehen. Wenn man mich hier aufspüren sollte, möchte ich doch wenigstens gewarnt und in der Lage sein, der Gefahr ins Gesicht zu sehen. Ich konzentriere mich darauf, meine Atmung zu beruhigen. Unter mir fangen die Pferde an zu schnauben und mit den Hufen zu scharren. Abgesehen davon, dass sie ihre Gestalt bzw. den Körper wechseln können, den sie für ihre physische Existenz brauchen, besitzen Seelen keine übernatürlichen Kräfte. Jedenfalls nicht in meiner Welt. Aber es ist trotzdem schwer zu glauben, dass der Leibwächter Samaels mich nicht doch hören wird oder instinktiv weiß, wo ich bin.
Ich kann schließlich wieder ruhig atmen, als ich plötzlich Schritte höre, leicht und vorsichtig. Ich verrenke mir den Hals und spähe nach unten. Überrascht erkenne ich den Jungen, der vorhin die Hühner fütterte und mich so freundlich begrüßte. Ganz ruhig schaut er sich in der Scheune um, bis sein Blick auf Sargent fällt. Er hebt das Kinn und dreht sich langsam im Kreis, bis seine Augen auf mein Gesicht treffen, das zwischen den Kisten gerade so zu sehen ist. Ich lege einen Finger an die Lippen und flehe ihn stumm an, mich nicht zu verraten. Gleichzeitig will ich ihn anschreien, er solle fliehen, denn obwohl die Seelen hinter mir her sind, weiß ich genau, dass ihnen das Leben eines unschuldigen Kindes nichts bedeutet.
Aber es ist zu spät. Ich habe keine Gelegenheit mehr, ihn zu warnen, denn in diesem Augenblick wird das hintere Tor, durch das auch ich die Scheune betreten habe, quietschend ein Stück weiter aufgeschoben. Von meinem Platz aus kann ich nur einen Teil des blonden Haars sehen. Von hinten von der Nachmittagssonne angestrahlt, steht der Mann einen Moment lang still im Türrahmen. Dann tritt er ein und verliert sich im Schatten der Scheune. Ein paar Sekunden lang kann ich ihn nicht sehen, aber ich höre seine verstohlenen Schritte unter mir auf dem Scheunenboden.
Die Schritte sind gemächlich und gelassen, anfangs leise, dann etwas lauter werdend, bis der Mann vor dem Jungen steht. Ich beuge mich vorsichtig vor, wobei ich darauf achte, mein Gewicht nicht zu verlagern. Alte Gebäude, besonders solche aus Holz, quietschen und knarren bei der leisesten Bewegung. Aber es hat keinen Sinn. Ich erhasche lediglich einen Blick auf die schwarzen Reitstiefel und die Hosen des Mannes. Sein Oberkörper und das Gesicht liegen im Schatten.
Den Jungen dagegen sehe ich klar und deutlich. Er steht völlig bewegungslos vor dem blonden Leibwächter. Ich habe das merkwürdige Gefühl, dass der Junge überhaupt keine Angst hat.
Der Mann schweigt eine Weile. Als er spricht, klingt seine Stimme kehlig und unbeholfen. Das Sprechen scheint ihm Mühe zu bereiten.
»Où est la fille?« Wo ist das Mädchen?
Es ist eine einfache Frage, aber die Stimme verursacht mir eine Gänsehaut. Es ist die Stimme von jemandem, der ungeübt darin ist, dem eigenen Körper Klang und Geräusch zu entlocken.
Die Stimme des Jungen klingt klein in der Weite der geräumigen Scheune. »Venez. Je vous montrerai.« Kommen Sie. Ich zeige es Ihnen.
Mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Das Adrenalin strömt durch meinen Körper und ich blicke mich hastig nach möglichen Fluchtwegen um.
Aber der Junge führt den Mann nicht zum Heuboden. Stattdessen geht er in Richtung einer Doppeltür auf der Vorderseite der Scheune.
Der Leibwächter folgt ihm nicht sofort. Er bleibt noch eine Weile still stehen, und ich habe das untrügliche Gefühl, dass er sich aufmerksam umschaut. Ich ducke mich tiefer in die Schatten und halte den Atem an. Wieder erklingen die Stiefelschritte. Sie führen den Leibwächter zum Fuß der Leiter, und ich versuche, die Höhe des Heubodens abzuschätzen, überlege mir, ob ich einen Sprung riskieren soll, falls der Mann die Leiter hinaufklettert. Da werden die Schritte leiser und entfernen sich.
Die Stimme des Jungen erschreckt mich in der Stille. »Elle est partie il y a quelque temps. Cette voie. À travers le champ.«
Sie ist vor einer Weile weggegangen. Da entlang. Über das Feld.
Ich beuge mich vor, um den Jungen besser sehen zu können, der dem Mann den Weg zu einem entfernt liegenden Feld weist.
Einen Moment lang herrscht Totenstille. Einen Moment lang glaube ich, dass der Leibwächter sich umdrehen und die Scheune von oben bis unten durchsuchen wird. Aber dann geht der Moment vorbei. Wieder höre ich Schritte, die näher kommen. Der Mann kehrt zurück. Anfangs begreife ich nicht, warum er nicht gleich zu den Feldern
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