Liebe und Verrat - 2
von ihm entfernt bin, höre ich den animalischen Unterton in seiner Stimme. Er bricht abrupt ab, als ob er mich spüren könnte, und dreht den Kopf in meine Richtung.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis ich mich in Bewegung setze. Alles scheint sich gleichzeitig zu verlangsamen und zu beschleunigen. Ich weiß nur, dass ich Sargent auf die Kirche zutreibe und der Leibwächter gleichzeitig seinem Pferd die Sporen gibt und die alte Frau mit offenem Mund an der Straßenecke stehen lässt.
Er ist direkt hinter mir, während ich durch die Stadt reite, im Zickzack eine Straße hinunter und die andere wieder hinauf, in dem verzweifelten Versuch, die Kathedrale zu erreichen. Nach ein paar missglückten Wendungen und Biegungen bin ich auf dem richtigen Weg. Zweimal folge ich kleinen Gassen, die zur Kirche zu führen scheinen, mich in Wahrheit aber wieder von ihr wegbringen. Mein Verfolger scheint sich genauso wenig in der Stadt auszukennen und wird immerhin von den gleichen irdischen Begrenzungen und Hindernissen geplagt wie ich. Er folgt mir, wohin ich mich auch wende, obwohl er mir mehr als einmal den Weg hätte abschneiden können.
Endlich finde ich eine Straße, die hinauf auf einen Hügel führt, wo ich ein kleines Schild entdecke, auf dem N OTRE- D AME DE C HARTRES steht. Und nach einer Biegung sehe ich die Kathedrale auf dem Hügelkamm thronen. Die hohen, spitzen Türme überragen den uralten Kirchenbau und scheinen den Himmel zu berühren. Sargents Atem geht laut und abgehackt, während er die unebene Straße erklettert, der Leibwächter dicht auf unseren Fersen.
Ich mache mich zum Abspringen bereit, will so schnell wie möglich den Schutz der Kirche erreichen. Das Portal der Kathedrale kommt näher und näher. Am Fuß der imposanten Fassade angelangt, springe ich beinahe aus vollem Lauf von Sargents Rücken und komme mit mehr Wucht auf dem Boden auf, als ich erwartet hätte. Einen Augenblick lang verschlägt es mir den Atem und ich taumele, versuche, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Gleichzeitig sehe ich, wie mein Verfolger hinter der Biegung in der Straße auftaucht.
Noch niemals war ich so dankbar für meine Hosen wie in diesem Augenblick. Zwei Stufen auf einmal nehmend, fliege ich förmlich zu der dunklen Vorhalle empor, hinter der sich das dreitürige Portal mit den reich verzierten Bogenfeldern darüber befindet. Mein Bogen schlägt mir gegen den Rücken, während ich versuche, nicht auf den vom Alter und von vielen Sohlen glatt polierten Steinen auszurutschen. Wenn ich falle, bin ich verloren, denn der Leibwächter ist dicht hinter mir. Seine Schritte sind schneller als meine und kommen näher – so nahe, dass ich das Gefühl habe, er könne nach mir greifen.
Ich schaue mich nicht um, als ich die Türen erreiche. Ich strecke nur die Arme aus, packe den riesigen Eisengriff mit beiden Händen und zerre daran, bis die Tür sich einen Spalt öffnet. Mehr brauche ich nicht. Ich schiebe mich hindurch und drücke die Tür hinter mir zu. Dann stehe ich im kühlen Innenraum der Kathedrale. In Sicherheit.
Ich rücke sofort von der Tür ab und lehne mich ein Stück weit entfernt gegen die Wand. Nach dem wilden Ritt durch die Stadt und hinauf zur Kathedrale ist die Stille im Inneren des Gotteshauses ohrenbetäubend. Mein Atem, laut und gejagt, hallt von den Steinwänden wider. Ich halte die Augen fest auf die Tür geheftet und bemühe mich, meine Atmung zu beruhigen. Trotz Dimitris Versicherungen erwarte ich jeden Moment, den Leibwächter durch die Tür stürmen zu sehen. Aber nichts passiert, und nach einer Weile stoße ich mich von der Wand ab und gehe weiter ins Hauptschiff hinein.
Die Kathedrale ist riesig. Die Decke wölbt sich unbeschreiblich hoch. Herrliche Buntglasfenster werfen Lichtflecken, die wie Edelsteine auf den Wänden und dem Boden der Kirche schimmern. Ich sehe atemberaubende Steinmetzarbeiten, die Heilige und biblische Szenen darstellen. In der Wölbung hinter dem Altar lauert Dunkelheit, und dorthin eile ich. Der Leibwächter mag zwar die Kirche nicht betreten dürfen, aber trotzdem fühle ich mich in dem Kirchenschiff mit seinen enormen Proportionen verwundbar. Dieser Ort ist voller Geheimnisse. Ich aber will nur die heilige Grotte finden und herausbekommen, wo die Seiten versteckt sind.
Hinter dem Altar stoße ich auf den Chorumgang. Von den Reisen mit Vater weiß ich, dass es an historischen Stätten oft Hinweisschilder gibt, die Besucher auf bedeutende Sehenswürdigkeiten
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