Liebe und Verrat - 2
reitet, die ihm der Junge gezeigt hat. Aber dann geht mir ein Licht auf: Sein Pferd. Er hat sein Pferd hinter der Scheune gelassen.
Ich hätte beinahe vor Erleichterung geweint, als er an der Leiter vorbeigeht, aber ich zwinge mich, weiter reglos zu bleiben, bis ich höre, wie er hinten aus der Scheune geht, sein Pferd besteigt und dann mit lautem Hufgeklapper davongaloppiert. Ich warte ein paar Minuten ab und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen.
»Il est parti, Mademoiselle. Vous pouvez descendre maintenant«, ruft mir der Junge von unten zu. Er sagt mir, dass ich gefahrlos nach unten kommen kann.
Ich schaue mich noch einmal gründlich in der Scheune um, als ob ich dem Frieden nicht trauen würde, ehe ich den Dolch wieder in meinen Rucksack stecke und vorsichtig die Leiter hinuntersteige. Als ich von der letzten Stufe zu Boden springe, wartet der Junge schon auf mich. Ich drehe mich zu ihm und ziehe ihn in eine feste Umarmung. Sein kleiner, erschrockener Körper versteift sich in meinen Armen.
»Merci, petit homme.« Ich lasse ihn los und schaue ihn an, in der Hoffnung, dass ich in meinem mangelhaften Französisch wenigstens erfragen kann, in welche Richtung er den Leibwächter geschickt hat. »Quelle voie l’avez-vous envoyé?«
Der Junge wendet sich zur offenen Vordertür der Scheune. »À travers le champ. Loin de la ville.« Über das Feld. Weg von der Stadt.
Die Stadt mit der Kirche.
Ich bücke mich und schaue dem Jungen in die dunkelbraunen Augen. Sie erinnern mich an Dimitri und rasch schiebe ich den Gedanken beiseite. Ich kann mir keine Ängste und Sorgen leisten. Ich muss herausfinden, wie die Stadt heißt.
»Quel es le nom de la ville? Celle avec l’église grande?« Atemlos vor Spannung warte ich auf seine Antwort.
Sie besteht nur aus einem einzigen Wort, aber mehr brauche ich auch nicht.
»Chartres.«
32
Im Sattel sitzend, blicke ich über das Feld und denke nach.
Der Junge sagte, er habe den Leibwächter in die entgegengesetzte Richtung geschickt, aber es gibt keine Garantie dafür, dass der Mann sich nicht doch anders entschließt und zur Stadt reitet, um in Chartres nach mir zu suchen. Besonders wenn auch er Anlass hat zu glauben, dass die Seiten des Buchs dort versteckt sind.
Ich drehe mich um und blicke zum Wald hinter dem Bauernhaus. In seinem Schatten ist man besser geschützt als auf den offenen Feldern, die sich bis nach Chartres erstrecken. Aber ich weiß nicht, was mit Dimitri passiert ist oder wo die anderen Seelen sind. Ich könnte ihnen geradewegs entgegenreiten, falls ich mich wieder in den Wald begebe. In Chartres erwartet mich wenigstens der heilige Schutz der Kirche.
Und die Aussicht auf die fehlenden Seiten. Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, auch nur die geringste, dann werde ich alles dafür tun, sie in die Hände zu bekommen.
Ich fixiere die Stadt und gebe Sargent die Sporen. Er macht einen Satz vorwärts und seine Hufe donnern auf den harten Boden. Er trägt uns über die Felder, als würde der Wind selbst ihn vorantreiben.
Als wüsste er um die Gefahr, in der wir schweben.
Die Weite der Landschaft ist angesichts meiner Lage Furcht einflößend. Die Sonne scheint hell und färbt das Gras golden. Die Ähren wiegen sich im Wind. Aber bei aller Schönheit gibt es nirgends einen Platz, wo ich mich verstecken könnte. Aber kaum habe ich diesen Gedanken gedacht, verzieht sich mein Mund zu einem schmalen Strich. Ich will mich nicht mehr verstecken.
Trotzdem zerrt die Angst bei jedem Galoppsprung an meinen Nerven. Ich bin fast überrascht, als wir die Hälfte des Weges geschafft haben, ohne dass Hufgetrappel hinter mir laut wird. Näher und näher komme ich der Stadt und schließlich erreiche ich sie.
Chartres ist nicht so klein, wie es aus der Ferne den Anschein hat. Trotzdem sind nur wenige Leute in den staubigen Straßen unterwegs. Sie scheinen es nicht eilig zu haben und schauen mir mit einer Mischung aus Neugier und Ärger nach. Angesichts ihrer gelassenen und trägen Haltung vermute ich, dass ich die Ruhe eines ereignislosen Tages in einer langen Kette von ereignislosen Tagen gestört habe.
Dieser Tag in Chartres wird allerdings nicht ereignislos verlaufen, zumindest nicht für mich, denn als ich in eine schmale Gasse einbiegen will, die mich zu den hoch aufragenden Türmen der Kathedrale führen würde, sehe ich den blonden Leibwächter mit einer alten Frau an einer Straßenecke sprechen. Er sitzt im Sattel, und obwohl ich noch ein ganzes Stück weit
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