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Liebe und Verrat - 2

Liebe und Verrat - 2

Titel: Liebe und Verrat - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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die man zu sehen wünscht, und diese Person wird den Wunsch spüren.
    Alice geht von den Stallungen aus auf mich zu. Selbst diese scheinbar unbedeutende Entscheidung – zu gehen statt zu fliegen – ist kein Zufall. Es ist ihre Art, mir zu zeigen, dass ich mich hier, in den Anderswelten, auf ihrem Territorium befinde. Sie kann sich unter dem Schutz der Seelen frei und ungehindert bewegen, während ich ständig auf der Hut sein muss.
    Ich betrachte Alice, während sie näher kommt. Sie ist seit meiner Abreise schmaler geworden. Ihr Gang zeugt immer noch von dem ihr eigenen Selbstbewusstsein – das Kinn erhoben, der Rücken kerzengerade. So kenne ich sie, aber als sie dann vor mir steht, erschaudere ich.
    Ihre Haut ist so weiß wie die Laken, mit denen man nach dem Tod unserer Mutter die Möbel im dunklen Zimmer abdeckte. Ich könnte glauben, Alice sei krank, wenn da nicht die Anspannung in ihrem Körper wäre. Ich fühle, wie es unter ihrer Haut zuckt, gerade so, als wäre es meine Haut. Ihre Wangenknochen treten hart aus ihrem Gesicht hervor, das hager geworden ist, genauso wie der Rest ihres Körpers. Sie hat ihre weiblichen Rundungen verloren und ihr Kleid hängt schlaff und lose um ihren Leib.
    Aber es sind ihre Augen, die mir den Magen vor lauter Angst und Trauer umdrehen. Das lebendige Funkeln, das immer so typisch war für Alice, ist einem unnatürlichen Glänzen gewichen. Die uralte Prophezeiung, die uns in ihrem Griff hat, spricht daraus, ebenso die Boshaftigkeit der Seelen, denen meine Schwester ergeben ist. Es ist der letzte Beweis dafür, dass ich sie endgültig verloren habe.
    Sie betrachtet mich ausgiebig, als ob sie so erkennen könnte, wie ich mich verändert habe und ob ich mir meiner Kräfte voll bewusst bin. Nach ein paar Augenblicken lächelt sie, und es ist, als ob sie mir das Messer ins Herz stechen und es umdrehen würde. Denn es ist ihr altes Lächeln, das Alice-Lächeln, das sie stets nur mir schenkte. Aber inmitten all ihres Charmes kann ich die tiefe Trauer erkennen. Es ist mir fast unerträglich, unter den scharfen Konturen dieser Wangenknochen und in den tiefen Augenhöhlen den Schatten meiner Schwester zu sehen.
    Ich schlucke und dränge meine Gefühle in den Hintergrund. Ihr Name fühlt sich fremd auf meiner Zunge an. »Alice.«
    »Hallo, Lia.« Ihre Stimme ist noch so, wie ich sie in Erinnerung habe. Wenn wir nicht in den Anderswelten stehen würden, einem Ort, den nur wenige als wirklich anerkennen und noch weniger je betreten haben, könnte man glauben, wir würden uns auf eine Tasse Tee treffen. »Ich habe deinen Ruf gespürt.«
    Ich nicke. »Ich wollte dich sprechen.« Es ist die schlichte Wahrheit, obwohl die Gründe dafür alles andere als einfach sind.
    Sie neigt den Kopf. »Warum denn? Ich habe gedacht, dass du im Augenblick viel zu beschäftigt bist.« In ihrer Stimme liegt ein unangenehmer Spott, als ob meine Reise nach Altus lediglich das Hirngespinst eines gelangweilten Kindes sei.
    »Genauso wie du, wie ich höre.«
    Ihre Augen werden grau vor unterdrücktem Zorn. »Ich vermute, Tante Virginia hat über mich hergezogen, nicht wahr?«
    »Sie hat mir nur von meiner Schwester erzählt. Und sie konnte mir nichts berichten, was ich nicht mit eigenen Augen sehen kann.« Ich frage mich, ob sie abstreiten wird, die Grenze zwischen den Anderswelten und der irdischen Welt übertreten zu haben. Ob sie den Umstand, dass ich sie in Milthorpe Manor gesehen habe, als bloße Einbildung abtun wird. Aber das tut sie nicht.
    »Ach, du meinst wahrscheinlich meinen Besuch vor ein paar Nächten.« Sie schaut mich belustigt an.
    »Alice, der Schleier zwischen den Welten ist heilig. Du brichst die Gesetze der Schwingen, die Gesetze der Grigori. Ich habe niemals an deinen Fähigkeiten gezweifelt, an deiner Macht, Dinge zu sehen und zu tun, die das Vermögen der meisten Schwestern übersteigen, aber die Anderswelten dazu zu benutzen, dich selbst an einen anderen Ort in der irdischen Welt zu versetzen, ist verboten.«
    Sie lacht und der Klang schwebt über die Felder der Anderswelten. »Verboten? Nun ja, du kennst doch das Sprichwort: Wie die Mutter, so die Tochter.« Die Bitterkeit in ihrer Stimme ist deutlich spürbar. Sie schlägt mir förmlich ins Gesicht.
    »Mutter wusste, dass sie nicht mehr hier sein würde, um die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen.« Es fällt mir schwer, über meine Mutter zu reden. Ich weiß aus erster Hand, wie es ist, eine Sklavin der Prophezeiung zu sein, und ich

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