Liebe und Verrat - 2
von den Höllenhunden. Der Umstand, dass sich keine von beiden sonderlich über diese neue Gefahr wundert, verdeutlicht, wie sehr unser Denken sich bereits vom Rest der irdischen Welt entfernt hat. Unsere Mienen sind düster und wir reden nicht viel, während wir uns zu Bett begeben. Edmund hat darauf bestanden, mit der Waffe in der Hand unser Lager zu bewachen, während Sonia, Luisa und ich schlafen. Mich plagt das schlechte Gewissen, weil ich in einem bequemen Zelt liegen darf, während er dort draußen allein mit sich und der Nacht Wache hält, aber dabei kann ich ihm beim besten Willen nicht helfen.
In dieser Nacht gilt meine größte Sorge nicht den Höllenhunden, sondern meiner Schwester.
Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich sie in den Anderswelten aufsuchen soll. Seit Edmund mir von ihr und James erzählt hat, ist mir dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Es ist gefährlich, aber das Gleiche gilt auch für das Spiel, das sie mit James treibt. Und ich habe keinen Zweifel, dass es für sie bloß ein Spiel ist.
Alles, was Alice tut, kreist um ihre Sehnsucht, Samael in unsere Welt zu bringen, damit sie die mächtige Position einnehmen kann, die sie für sich beansprucht. Natürlich verletzt mich die Vorstellung, dass sie und James sich in meiner Abwesenheit nähergekommen sind, aber ich bin nicht wütend deswegen. Ich habe nur Angst um James und verspüre – wenn ich ehrlich bin – eine gehörige Portion Eifersucht.
Und deshalb muss ich Alice treffen. Es gibt keine andere Möglichkeit, um ihre Absichten zu ergründen. Tante Virginia und Edmund haben mir zwar einiges erzählt, aber ich bin ihre Schwester. Ich bin das Tor, dessen Wächter sie ist, wenn unsere Rollen auch tragisch vertauscht wurden.
Mit den Schwingen zu reisen, ist für mich immer noch eine sehr persönliche Angelegenheit, und so warte ich, bis Sonia und Luisa eingeschlafen sind, bis ihr Atem den stetigen Rhythmus angenommen hat, der mit dem Schlummer einhergeht.
Es dauert nicht mehr so lange wie früher und kostet mich auch nicht mehr die gleiche Mühe, mich in diesen merkwürdigen Halbschlaf fallen zu lassen, in dem meine Seele sich aus meinem Körper erheben und mit den Schwingen reisen kann. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, dass es mir früher Angst gemacht hat, meinen Körper zu verlassen. Jetzt fühle ich mich frei, wenn ich mich auf die gewundenen Pfade der Anderswelten begebe.
Ich fliege über die Felder von Birchwood. Meine Füße berühren fast den Boden. Ich bin immer noch mit der irdischen Welt verwachsen und daher verletzlicher, wenn ich fliege. Aber fliegen muss ich, denn es ist die schnellste Art der Fortbewegung in den Anderswelten. Wenn ich mich dicht am Boden halte, befinde ich mich in relativer Sicherheit – eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Und ich muss zusehen, dass ich die Anderswelten so schnell wie möglich wieder verlasse und in meine eigene Welt zurückkehre.
Ich folge dem Fluss am Haus vorbei in Richtung der Stallungen. Das Wasser rauscht unter mir, und es bereitet mir Mühe, den Gedanken an Henry zu vermeiden. Ich habe ihn seit seinem Tod in den Anderswelten nicht wiedergesehen, und meine Eltern ebenfalls nicht, seit jenem einen Mal, kurz bevor Henry starb. Ich habe auch nicht versucht, mit ihnen in Kontakt zu treten, weil mir das Risiko, das sie eingehen würden, nur zu bewusst ist.
Meine Mutter und mein Vater befinden sich seit ihrem Ableben auf der Flucht vor den Seelen. Sie weigern sich, in die letzte Welt überzugehen, für den Fall, dass ich ihre Hilfe brauche. Ich kann nur hoffen, dass meine Eltern und mein Bruder beisammen sind, in welcher Welt auch immer.
Ein Stück weit hinter den Stallungen befindet sich ein See, und hier setze ich meine Füße in dem hohen Gras an seinem Ufer nieder. Es wird immer schwieriger, Stellen in der Nähe meines Zuhauses zu finden, die nicht mit einer schrecklichen Erinnerung verbunden sind, aber dies ist ein Ort, an dem niemals etwas Böses geschehen ist. Sogar jetzt, während ich mit den Schwingen reise, kann ich das Gras fühlen, grün und frisch unter meinen Füßen. Es erinnert mich an die vielen Male, da Alice und ich barfuß an dieser Stelle standen und Steine ins Wasser warfen und darum wetteiferten, wessen Stein am weitesten flöge.
Ich schaue über das Feld zum Haus und sehe sie kommen. Ich habe nichts anderes erwartet. Schon lange weiß ich um die Macht, die Gedanken in den Anderswelten ausüben. Man muss nur an die Person denken,
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